Der Raritätenladen
Weiber, die vor Euch gebracht werden, ohne daß Ihr ihnen Mitleid erweist, sind taub und stumm in ihrer Seele, gehen in diesem Zustande unrechte Wege und werden in diesem Zustande gestraft an Seele und Leib, während Ihr Herren untereinander zankt, ob sie dies oder jenes lernen sollen! – Seid gerecht, Sir, und gebt mir meinen Sohn zurück.«
»Ihr seid verzweifelt«, sagte der Herr, indem er seine Schnupftabaksdose herauszog, »und ich bedaure Euch!«
»Ich bin verzweifelt«, entgegnete das Weib, »und Ihr habt mich so weit gebracht! Gebt mir meinen Sohn zurück, daß er für diese hilflosen Kinder arbeite. Seid gerecht, Sir, und gebt mir ihn um Gottes willen, Ihr habt ja auch diesem Knaben Gnade widerfahren lassen, gebt mir meinen Sohn zurück!«
Nell hatte genug gesehen und gehört, um zu wissen, daß dies kein Haus war, in dem sie auf ein Almosen zählen konnte. Sie führte den alten Mann sanft von der Tür weg, und sie setzten ihre Wanderung fort.
Mit immer geringerer Hoffnung und Kraft, aber stets mit der gleichen Entschlossenheit, durch kein Wort oder Zeichen ihre Erschöpfung zu verraten, solange sie sich noch bewegen konnte, zwang sich Nell, den Rest jenes harten Tages weiterzuwandern. Und um einigermaßen die Zeit einzubringen, die sie durch ihr langsames Dahinschleichen versäumte, gönnte sie sich nicht einmal die kleinen Pausen zum Ausruhen, die sie früher eingehalten hatte. Der Abend rückte heran, und noch ehe die Nacht anbrach, gelangten sie, noch immer durch eine gleich unheimliche Umgebung ziehend, in eine geschäftige Stadt.
In ihrer Ermattung und Mutlosigkeit waren ihnen die lauten Straßen unerträglich. Nachdem sie an einigen Türen um Almosen gebeten hatten und zurückgewiesen worden waren, entschlossen sie sich, die Stadt so schnell als möglich wieder zu verlassen und den Versuch zu machen, ob die Bewohner irgendeines einsamen Hauses nicht mehr Mitleid mit ihrem erschöpften Zustande haben würden.
Sie schleppten sich eben durch die letzte Straße, und Nell fühlte, daß ihre entschwindenden Kräfte unmöglich noch lange aushalten könnten. In diesem Augenblick tauchte vor ih
nen ein Fußgänger auf, der in derselben Richtung wie sie marschierte, ein Felleisen auf dem Rücken trug, sich beim Gehen auf einen kräftigen Stock stützte und ein Buch in der Hand hatte, in dem er las.
Es war nicht leicht, ihm nachzukommen und seine Hilfe anzuflehen, denn er ging schnell und hatte einen kleinen Vorsprung. Endlich blieb er stehen, um eine Stelle seines Buches aufmerksamer betrachten zu können. Von einem Strahl der Hoffnung beseelt, eilte Nell ihrem Großvater voraus, trat dicht an den Fremden heran, ohne daß er durch ihr Herannahen gestört worden wäre, und begann mit leiser Stimme seine Hilfe zu erbitten.
Er wandte den Kopf. Nell schlug die Hände zusammen, stieß einen wilden Schrei aus und sank zu seinen Füßen nieder.
Sechsundvierzigstes Kapitel
Ihr hatte der arme Schulmeister sein Gesicht zugewendet –kein anderer als der arme Schulmeister. Kaum weniger überrascht und erschüttert durch den Anblick der Kleinen, als diese es im Augenblick des Erkennens gewesen war, stand er einen Moment stumm und ganz verwirrt über diese unerwartete Begegnung da, ohne sich auch nur so weit fassen zu können, daß er sie vom Boden aufhob.
Er sammelte sich jedoch bald, warf Buch und Stock weg, ließ sich an ihrer Seite auf ein Knie nieder und bemühte sich, sie durch die einfachen Belebungsmittel, deren er sich erinnerte, wieder zu sich zu bringen, während ihr Großvater untätig danebenstand, die Hände rang und sie unter vielen zärtlichen Ausrufen anflehte, mit ihm zu sprechen, wäre es auch nur ein einziges Wort.
»Sie ist ganz erschöpft«, sagte der Schulmeister zu ihm aufblickend. »Sie haben ihre Kräfte über Gebühr angestrengt, Freund.«
»Sie stirbt vor Hunger!« versetzte der alte Mann. »Ich habe bis zu diesem Augenblick nie gedacht, daß sie gar so schwach und krank ist.«
Der Schulmeister warf einen halb vorwurfsvollen, halb mitleidigen Blick auf ihn, nahm Nell auf seine Arme, hieß den alten Mann das Körbchen aufheben und ihm folgen und trug die Besinnungslose eiligst fort.
In der Nähe befand sich ein kleines Wirtshaus, zu dem er anscheinend eben gehen wollte, als er so unerwartet eingeholt wurde. Dorthin eilte er mit seiner leblosen Bürde, stürmte in die Küche, und indem er den Anwesenden zurief, doch um Gottes willen Platz zu machen, setzte er Nell auf einen Stuhl
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