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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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gekrampft hatten, und nahmen sie zwischen die ihrigen.
    »Gewiß, er wird auf mich hören«, sagte der Schulmeister. »Wenn wir ihn darum bitten, wird er entweder auf mich oder auf Sie hören. Sie hätte es jederzeit getan.«
    »Ich will auf jede Stimme hören, die sie gern hörte«, rief der alte Mann. »Ich liebe alles, was sie liebte!«
    »Ich weiß es ja«, entgegnete der Schulmeister, »ich bin davon überzeugt. Denken Sie an sie; denken Sie an alle die Sorgen und Bekümmernisse, die ihr miteinander geteilt, und an alle die Prüfungen und die stillen Freuden, die ihr gemeinschaftlich miteinander erlebt habt.«
    »Freilich, freilich, ich denke an nichts anderes.«
    »Ich wollte, Sie dächten heute an nichts anderes – an nichts, als an solche Dinge, die Ihr Herz weicher stimmen und es öffnen für die alte Liebe und die alten Zeiten, mein lieber Freund.
So würde jetzt sie zu Ihnen sprechen, und in ihrem Namen rede ich zu Ihnen.«
    »Sie werden gut tun, wenn Sie leise sprechen«, sagte der alte Mann. »Wir wollen sie nicht wecken, sosehr es mich auch freuen würde, wieder ihre Augen und ihr Lächeln zu sehen. Auch jetzt liegt ein Lächeln auf ihrem jugendlichen Gesicht, aber es ist immer dasselbe – unwandelbar. Ich wollte, es käme und ginge. So Gott will, wirds aber auch wiederkommen. Wir wollen sie nicht aufwecken.«
    »Wir wollen nicht von ihrem Schlaf reden, sondern wie sie war, als ihr miteinander eure weiten Wanderzüge machtet, wie sie war in der Heimat, in dem alten Hause, aus dem ihr floht, wie sie war in der alten, frohen Zeit«, sagte der Schulmeister.
    »Sie war immer froh, immer sehr heiter«, rief der alte Mann mit einem starren Blick auf den Schulmeister. »Ich erinnere mich zwar, daß von frühester Jugend an immer etwas Mildes und Ruhiges in ihrem Wesen war, aber sie hatte doch ein glückliches Temperament.«
    »Wir haben von Ihnen gehört«, fuhr der Schulmeister fort, »daß sie in diesem und in ihrer großen Güte ihrer Mutter so sehr glich. Können Sie sich noch an sie erinnern, noch an sie denken?«
    Er behielt seinen stieren Blick bei, gab jedoch keine Antwort.
    »Oder vielleicht an eine, die noch vor ihr war«, versetzte der Bachelor. »Es ist schon viele Jahre her, und Leiden verlängern die Zeit; aber Sie haben doch wohl sie nicht vergessen, deren Tod dazu beitrug, Ihnen dieses Kind so teuer zu machen, noch ehe Sie dessen Wert kannten oder in seinem Herzen lesen konnten? Sagen Sie, daß Sie Ihre Gedanken weit, weit zurücklenken können, in Ihre Jugendzeit, als Sie nicht allein Ihre Kindheit verleben mußten wie diese schöne Blume. Sagen Sie, daß
Sie sich erinnern können an ein Kind, das Sie einst vor vielen, vielen Jahren zärtlich liebte, als Sie selbst noch ein Kind waren. Sagen Sie, daß Sie einen Bruder hatten, den Sie längst vergaßen, den Sie lange nicht gesehen haben, der lange von Ihnen getrennt war, der jetzt endlich zurückkommt, um Sie in Ihrer höchsten Not zu trösten und Ihnen Beistand zu leisten …«
    »Dir zu sein, was du ihm ehemals warst«, rief der jüngere Bruder, indem er vor dem älteren auf die Knie niederfiel; »dir deine alte Liebe zu vergelten, teurer Bruder, durch beharrliche Sorgfalt und liebevolle Pflege; an deiner Seite dir das zu sein, was er nie zu sein aufhörte, als selbst Weltmeere zwischen uns rollten; ganze Jahre der Einsamkeit zu Zeugen seiner unveränderten Treue und seines steten Gedenkens an entschwundene Tage aufzurufen. Laß mich nur ein einziges Wort des Wiedererkennens hören, Bruder, und nie, nein nie, selbst in den glücklichsten Augenblicken unserer Jugendzeit, da wir als arme, törichte Knaben unser Leben gemeinsam zu verbringen gedachten, werden wir uns gegenseitig auch nur halb so liebgehabt haben oder uns nur halb so teuer gewesen sein, als es von nun an der Fall sein soll!«
    Der alte Mann sah von Gesicht zu Gesicht, und seine Lippen bewegten sich; aber kein Laut der Erwiderung entschlüpfte ihnen.
    »Wenn wir schon damals so eng miteinander verbunden waren«, fuhr der jüngere Bruder fort, »wie innig wird nicht jetzt erst unsere Verbrüderung sein! Unsere Liebe und Freundschaft begann mit unserer Kindheit, als das ganze Leben noch vor uns lag, und wir nehmen sie wieder auf, nachdem wir die Prüfungen der Welt gekostet und schließlich doch nur wieder Kinder sind. Wie viele ruhelose Seelen, die dem Glück, dem Ruhm oder dem Vergnügen über die ganze Erde nachgejagt haben, ziehen sich im Alter dahin zurück, wo sie die

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