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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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ersten
Atemzüge machten, und suchen noch einmal Kinder zu werden, ehe sie sterben. Und so wollen auch wir, weniger glücklich als sie in jüngern Jahren, aber glücklicher in der Schlußszene des Lebens, ein Ruheplätzchen suchen an dem Orte, an dem wir uns als Knaben umhertrieben; wir wollen heimgehen, ohne eine Hoffnung verwirklicht zu sehen, die in den Jahren der Mannheit aufsproßte, nichts zurückbringen, was wir mitgenommen haben, als unsere alte Sehnsucht nacheinander, nichts retten aus dem Schiffbruche des Lebens als das, was uns dasselbe zuerst teuer gemacht hat; und so können wir in der Tat wieder Kinder werden, wie wir es früher waren. Und wenn«, fügte er mit veränderter Stimme hinzu, »wenn, was ich mich auszusprechen fürchte, eingetreten ist, selbst wenn es so ist oder so kommen soll – wovor der Himmel uns bewahren wolle –, auch dann, lieber Bruder, werden wir nicht getrennt sein und diesen Trost in unserm Kummer haben!«
    Der alte Mann hatte sich während dieser Worte mehr und mehr dem anstoßenden Kämmerchen genähert. Er deutete auf dieses hin und versetzte mit bebenden Lippen:
    »Ihr habt euch verschworen, ihr mein Herz zu entfremden. Es soll euch aber nicht gelingen – nie, solange ich noch lebe. Ich habe keinen Verwandten, keinen Freund als sie, habe nie einen gehabt, will nie einen haben. Sie ist alles für mich. Es ist zu spät, uns jetzt zu trennen.«
    Indem er sie mit einer Handbewegung zurückwies, rief er leise ihren Namen und schlich sich in die Kammer. Die Zurückbleibenden traten näher zusammen, und nach einigen Worten, die sie einander zuflüsterten – sie brachten sie vor Ergriffenheit nur schwer stammelnd hervor –, folgten sie ihm. Sie bewegten sich so leise, daß ihre Tritte nicht zu hören waren, wohl aber ihr Schluchzen und die Laute des Schmerzes und der Trauer.
    Denn sie war tot. Dort auf ihrem kleinen Bettchen schlief sie den ewigen Schlaf. Die feierliche Stille war kein Wunder mehr.
    Sie war tot. Da ist kein Schlaf, der so ruhig und schön, so frei von jedem Schmerzenszug, so lieblich anzusehen ist. Sie schien ein Gebilde zu sein, eben der Hand Gottes entgleitend, das nur auf das Einhauchen des Lebensodems wartete, nicht eins, das gelebt und den Tod erlitten hatte.
    Ihr Lager war da und dort mit Winterbeeren und grünen Blättern geschmückt, die man an einem Orte gesammelt hatte, an dem sie gern weilte. ›Wenn ich sterbe, so legt etwas in meine Nähe, das das Licht liebte und den Himmel stets über sich hatte.‹ Dies waren ihre Worte gewesen.
    Sie war tot. Die teure, sanfte, edle Nell war tot. Ihr Vögelchen, ein armes, gebrechliches Geschöpf, das unter dem Druck eines Fingers sein Leben ausgehaucht hätte, hüpfte munter in seinem Käfig; und das starke, mutige Herz seiner kindlichen Herrin war stumm und regungslos für immer.
    Wo waren die Spuren ihrer frühen Sorgen, ihrer Leiden und Mühen? Alles war verwischt. Ihr Kummer war nun wirklich zum Schweigen gebracht, aber Friede und vollkommenes Glück waren neu entsproßt – man sah dies an ihrer stillen Schönheit, an ihrer tiefen Ruhe.
    Und doch lag noch ihr früheres Selbst da, unverändert in dieser Veränderung. Ja, der alte Kamin hatte diesem selben süßen Gesicht gelächelt; es war wie ein Traum durch die Stätten des Elends und der Sorge gezogen. An der Tür des armen Schulmeisters an jenem Sommerabend, vor dem Ofenfeuer während der kalten Regennacht, an dem stillen Bett des sterbenden Knaben, da hatte sie denselben milden, lieblichen Ausdruck. So werden wir nach dem Tode die Engel in ihrer Majestät schauen.
    Der alte Mann hielt einen der erschlafften Arme in dem seinigen und drückte die kleine Hand fest umschlungen an seine Brust, um sie zu wärmen. Es war die Hand, die sie ihm mit ihrem letzten Lächeln entgegengestreckt, die Hand, die ihn auf allen ihren Wanderungen geleitet hatte. Wieder und wieder preßte er sie an seine Lippen; dann drückte er sie nochmals an seine Brust und murmelte, daß sie jetzt wärmer sei. Und mit diesen Worten sah er wie in Todesangst zu den Umstehenden auf, als flehte er sie an, ihr zu helfen.
    Sie war tot, keine Hilfe war mehr möglich oder nötig. Die alten Räume, die sie mit Leben zu erfüllen schien, selbst als ihr eignes mit Riesenschritten dem Grabe zueilte, der Garten, den sie gepflegt, die Augen, die sie erfreut, die geräuschlosen Schauplätze mancher gedankenvollen Stunde, die Pfade, die sie betreten, als wäre es erst gestern – sie sollten nichts mehr

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