Der Raritätenladen
von ihr sehen.
»Nicht hienieden«, sagte der Schulmeister, indem er sich niederbeugte, um ihre Wangen zu küssen, und seinen Tränen freien Lauf ließ, »nicht hienieden endet die Gerechtigkeit des Himmels. Denkt, was die Erde ist im Vergleich mit der Welt, in die diese junge Seele ihren frühen Flug genommen hat, und sagt, ob einer von uns sie zurückrufen würde, wenn es durch einen einzigen, wohlüberlegten Wunsch, der mit feierlichen Worten über diesem Bette gesprochen würde, geschehen könnte!«
Zweiundsiebzigstes Kapitel
Als sie mit dem Anbruch des Morgens ruhiger über den Gegenstand ihres Schmerzes sprechen konnten, hörten sie, wie sie starb.
Sie war vor zwei Tagen gestorben. Damals waren alle um
sie, weil sie wußten, daß ihr Ende nicht mehr fern sei. Sie war bald nach Tagesanbruch gestorben. Man hatte ihr in der ersten Hälfte der Nacht vorgelesen und mit ihr gesprochen; im Verlauf der Stunden war sie jedoch eingeschlafen. Aus den leisen Worten, die die Schlummernde flüsterte, ließ sich entnehmen, daß sie von ihren Wanderungen mit dem alten Mann träumte, aber nicht von jenen Schauplätzen des Leidens, sondern von den Leuten, bei denen sie Hilfe und freundliche Güte gefunden; denn sie sagte oft mit großer Wärme: ›Gott vergelts euch!‹
Wachend hatte sie nur ein einziges Mal irregeredet: sie sagte nämlich, sie höre eine wunderliebliche Musik in der Luft. Gott mag das wissen – vielleicht ist es wahr gewesen.
Als sie endlich nach einem sehr ruhigen Schlaf die Augen wieder öffnete, bat sie ihre Freunde noch um einen Kuß. Man willfahrte ihr. Dann wandte sie sich mit einem Engelslächeln auf ihrem Gesicht – sie hatten, wie sie sagten, ein solches nie zuvor gesehen und wollten es nie vergessen – zu dem alten Mann und schlang ihre beiden Arme um seinen Nacken. Sie wußten nicht gleich, daß sie tot war.
Sie hatte sehr oft von den beiden Schwestern geredet, die sie wie teure Freundinnen betrachtete. Sie wünschte, sie hätte ihnen sagen können, wie oft ihre Gedanken bei ihnen geweilt und wie oft sie ihnen gefolgt sei, wenn sie abends an dem Flußufer spazierengingen. In der letzten Zeit hatte sie oft davon gesprochen, sie möchte wohl den armen Kit wiedersehen. Sie wünschte, daß jemand da wäre, um Kit von ihr zu grüßen. Und selbst damals noch dachte sie nie an ihn oder sprach nie von ihm, ohne wieder wie einst dabei herzlich und fröhlich zu lachen.
Im übrigen hatte sie nie gemurrt oder geklagt, sondern gefaßt und bis zuletzt ihr sanftes Wesen beibehaltend – nur
daß sie mit jedem Tag ernster wurde und sich immer dankbarer gegen ihre Umgebung erwies –, war sie wie das Licht an einem Sommerabend dahingeschwunden.
Der Knabe, der ihr kleiner Freund gewesen war, kam fast bei Tagesanbruch schon mit einem Sträußchen welker Blumen und bat, man möchte es auf ihre Brust legen. Er war es, der in der letzten Nacht ans Fenster gekommen war und mit dem Totengräber gesprochen hatte. Auch fand man kleine Fußspuren im Schnee, in dem er umhergetrippelt war, ehe er zu Bett ging, in der Nähe des Gemachs, in dem sie lag. Dem Anschein nach meinte er, man habe sie dort allein gelassen, und diesen Gedanken konnte er nicht ertragen. Er erzählte wieder von seinem Traum, daß sie wieder genesen und ihnen, wie sie war, zurückgegeben worden sei. Er bat flehentlich, sie möchten ihm erlauben, sie zu sehen, und sagte, er werde sich ganz ruhig verhalten; sie brauchten sich nicht zu fürchten, daß er aufgeregt sein würde; denn er sei den ganzen Tag allein bei seinem Bruder gewesen, als dieser gestorben war, und habe sich glücklich gefühlt, ihm so nahe sein zu können. Man ließ ihn gewähren; und in der Tat, er hielt Wort und war in seiner kindlichen Weise eine ernste Lehre für sie alle.
Bis dahin hatte der alte Mann kein Wort gesprochen, ausgenommen zu ihr, oder sich von dem Bett entfernt. Aber als er ihren kleinen Liebling sah, fühlte er sich in einer Weise ergriffen, wie man ihn noch nie gesehen hatte, und er gab durch Zeichen zu verstehen, daß er näher kommen möge. Dann deutete er nach dem Bett und brach in Tränen aus. Die Umstehenden wußten, daß ihm der Anblick des Kindes wohlgetan hatte, weshalb sie beide allein beieinander ließen.
Der Knabe beruhigte ihn mit seinem unschuldigen Geplauder von ihr und überredete ihn, sich ein wenig auszuruhen, mit ihm spazierenzugehen, kurz, der alte Mann tat fast alles,
was er von ihm verlangte. Und als der Tag kam, an dem ihre sterblichen
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