Der Raritätenladen
Reste für immer den Augen entrückt werden sollten, führte ihn der Kleine weit fort, damit er nicht wüßte, wann sie ihm genommen würde.
Sie wollten frische Blätter und Beeren sammeln für ihr Bett. Es war Sonntag, ein heiterer, klarer Winternachmittag, und als sie durch das Dorf gingen, wichen ihnen die Spaziergänger auf dem Wege aus, um ihnen Platz zu machen, und grüßten sie in stummer Wehmut. Einige nahmen den alten Mann freundlich bei der Hand, andere blieben mit unbedecktem Haupt stehen, während er vorbeiwankte, und viele riefen ihm ein ›Gott helfe ihm!‹ nach.
»Nachbarin«, sagte der alte Mann, als er vor dem Häuschen, in dem die Mutter seines Führers wohnte, stehenblieb, »wie kommt es, daß heute fast alle Leute schwarz gehen? Ich habe fast bei jedem ein Trauerband oder ein Stück schwarzen Flor gesehen.«
Sie wisse es nicht, sagte die Frau.
»Ei, Ihr selbst – Ihr tragt ja auch Trauer«, rief er. »Die Fenster sind geschlossen, was sonst nie bei Tage der Fall ist. Was soll das bedeuten?«
Abermals sagte die Frau, daß sie es nicht wisse.
»Wir müssen umkehren«, sagte der alte Mann hastig. »Wir müssen sehen, was das ist.«
»Nein, nein!« rief das Kind, ihn zurückhaltend. »Erinnern Sie sich, was Sie mir versprochen haben. Unser Weg führt zu der alten grünen Hecke, bei der sie und ich so oft waren, und bei der Sie uns mehr als einmal trafen, wie wir Girlanden für den Garten machten. Sie dürfen nicht umkehren!«
»Wo ist sie jetzt?« fragte der alte Mann. »Sag mir das!«
»Wissen Sie das nicht?« entgegnete das Kind. »Haben wir sie nicht eben verlassen?«
»Richtig, richtig! Es war ja sie, die wir verließen – ja, ja!«
Er drückte die Hand auf seine Stirn, blickte ausdruckslos umher und ging, wie von einem plötzlichen Gedanken getrieben, über den Weg, um in das Haus des Totengräbers zu treten. Dieser saß neben seinem tauben Gehilfen vor dem Feuer. Als sie sahen, wer kam, standen beide auf.
Das Kind gab ihnen hastig ein Zeichen mit der Hand. Es war nur die Bewegung eines Augenblicks, aber diese und das Aussehen des alten Mannes sagten ihnen genug.
»Habt ihr – habt ihr heute jemand zu begraben?« fragte er hastig.
»Nein, nein! Wen sollten wir zu begraben haben, Sir?« versetzte der Totengräber.
»Ja, freilich! Ich sage mit euch, wen solltet ihr wohl begraben?«
»Es ist heute Feiertag für uns, guter Sir«, entgegnete der Totengräber mild. »Wir haben heute keine Arbeit.«
»Nun, so will ich mit dir gehen, wohin du willst«, sagte der alte Mann, sich an das Kind wendend. »Es ist aber doch wahr, was ihr mir sagt? Ihr wollt mich nicht täuschen? Ich habe mich sehr verändert, sogar in der kurzen Zeit, seit wir uns zum letztenmal sahen.«
»Geht Eures Weges mit ihm, Sir«, rief der Totengräber, »und der Himmel möge euch beide geleiten!«
»Ich bin ganz bereit«, sagte der alte Mann demütig. »Komm, Knabe, komm!«
Und so ließ er sich wegführen.
Und nun erhob die Glocke, die Glocke, auf deren Klang sie so oft bei Tag und bei Nacht mit so feierlicher Freude gelauscht hatte, als wäre sie fast eine lebende Stimme, ihr unerbittliches Geläute über sie, die so jung, so schön und so gut war. Welkes Alter und kräftiges Leben, blühende Jugend und
hilflose Kindheit strömten heran – auf Krücken, auf der Höhe ihrer Kraft und Gesundheit, in der hoffnungsvollsten Blüte, in dem ersten Morgenrot des Lebens –, um sich an ihrem Grabe zu versammeln. Da waren alte Männer mit trüben Blicken und schwächer werdenden Sinnen, Großmütter, die schon alt gewesen, auch wenn sie bereits vor zehn Jahren gestorben wären, die Tauben, die Blinden, die Lahmen, die Gichtkranken, die lebenden Toten in jeder Gestalt und Form, um das Zuwerfen dieses frühen Grabes mit anzusehen. Was war der Tod, den es einschließen sollte, gegen den, der noch immer über das Grab hinkriechen und hinschleichen konnte!
Man trug sie jetzt über die gedrängte volle Straße; sie war so rein wie der frischgefallene Schnee, der ihren Weg bedeckte, und ihr Leben war ebenso flüchtig gewesen. Sie ging noch einmal durch die Pforte, unter der sie gesessen hatte, als des Himmels Gnade sie an diesen friedlichen Ort geführt, und die alte Kirche nahm sie in ihren ruhigen Schatten auf.
Sie trugen sie zu einer alten Nische, in der sie so manches Mal sinnend gesessen, und stellten die Bürde sanft auf das Steinpflaster nieder. Das Licht strömte durch das farbige Fenster, ein Fenster, hinter dem im
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