Der Raritätenladen
Sommer stets die Zweige der Bäume rauschten und Vögel den ganzen Tag süße Lieder sangen. Mit jedem Lufthauch, der die von der Sonne beschienenen Äste bewegte, würde ein zitterndes, wechselndes Licht über ihr Grab huschen.
Erde zu Erde, Staub zu Staub, Asche zu Asche!
Manche jugendliche Hand ließ einen kleinen Kranz in das Grab fallen, und manches erstickte Schluchzen wurde gehört. Einige – und ihrer waren nicht wenige – knieten nieder. Alle waren aufrichtig und wahr in ihrem Schmerz.
Als die Zeremonie vorüber war, traten die Leidtragenden beiseite, und die Dorfbewohner drängten sich um das Grab,
um noch einmal hinunterzusehen, ehe der Stein darübergelegt wurde. Der eine erinnerte sich, wie oft er sie an derselben Stelle hatte sitzen sehen, wie das Buch ihr in den Schoß gesunken war und wie sie mit gedankenvoller Miene gen Himmel blickte. Ein anderer erzählte, wie sehr er sich immer habe wundern müssen, daß ein so zartes Wesen so kühn sein konnte: sie habe sich nie gefürchtet, nachts allein in die Kirche zu gehen, sondern sei sogar gern dort geblieben, wenn alles ruhig gewesen; ja, selbst den Turm habe sie erklommen, ohne ein anderes Licht als die Strahlen des Mondes, die sich durch die Luftöffnungen der dicken alten Mauer stahlen. Unter den Ältesten verbreitete sich ein Geflüster, sie habe Engel gesehen und mit ihnen verkehrt; und manche mochten wohl diesem Gerücht Glauben beimessen, wenn sie sich erinnerten, wie sie ausgesehen und gesprochen hatte und wie bald sie heimgegangen war. Sie traten in kleineren Gruppen an das Grab, schauten hinunter, machten wieder andern Platz und entfernten sich flüsternd zu dreien oder vieren, bis endlich nur noch der Totengräber und die trauernden Freunde in der Kirche waren.
Sie warteten, bis die Gruft geschlossen und der Stein über sie gelegt worden war. Dann, als das Düster des Abends herannahte und kein Ton die heilige Stille des Ortes störte, als der silberne Mond sein Licht auf Gräber, Monumente, Pfeiler, Mauern und Bogen, vor allem aber, wie es ihnen vorkam, auf ihr ruhiges Grab warf, in jener ruhigen Stunde, da die Natur und unsere Seele erfüllt sind von dem Glauben an die Unsterblichkeit, und irdische Hoffnungen und Sorgen in den Staub niedersinken, kehrten sie mit ruhigen Schritten und ergebungsvollen Herzen zurück und ließen das Kind allein mit Gott.
Oh! es ist schwer, die Lehre zu beherzigen, die solche Todesfälle geben. Aber möge niemand sie zurückweisen, denn es ist
eine Lehre, die wir alle lernen müssen, eine gewaltige, allumfassende Wahrheit. Wenn der Tod die Unschuld und Tugend niederstreckt, so erblühen aus jeder gebrechlichen Gestalt, aus der er den sehnenden Geist befreit, hundert Tugenden im Gewande der Barmherzigkeit, der Mildtätigkeit und der Liebe, die durch die Welt wandeln und sie segnen. Aus jeder Träne, die der traurige Überlebende auf solchen grünen Gräbern vergießt, wird etwas Gutes geboren, ein edleres Wesen erzeugt. Unter den Tritten des Todesengels sprossen neue Schöpfungen, die seiner Gewalt Hohn sprechen, und sein dunkler Pfad wird ein Weg voll himmlischen Lichtes.
Es war spät, als der alte Mann nach Hause kam. Der Knabe hatte ihn unter irgendeinem Vorwand auf dem Rückwege in seine eigne Wohnung geführt, und von dem langen Spaziergange wie auch von dem unausgesetzten Mangel an Ruhe erschöpft, war der Greis neben dem Herde in einen tiefen Schlaf gesunken. Da er vollständig ermattet war, hütete man sich wohl, ihn zu wecken. Der Schlummer umfing ihn lange Zeit, und als er endlich erwachte, sandte der Mond seine Strahlen durch das Fenster.
Der jüngere Bruder, den seine lange Abwesenheit beunruhigte, stand wartend an der Tür, als der alte Mann mit seinem kleinen Führer des Weges daherkam. Er ging ihm entgegen, nötigte den Greis mit sanfter Gewalt, sich auf seinen Arm zu stützen, und führte ihn mit langsamen, zitternden Schritten nach Hause. Der alte Mann eilte sogleich in ihre Kammer. Als er nicht fand, was er dort gelassen hatte, kehrte er mit bestürzten Blicken in das Zimmer zurück, in dem die andern versammelt waren. Von hier aus eilte er in die Wohnung des Schulmeisters und rief ihren Namen. Sie folgten ihm auf der Ferse, und nachdem er lange vergeblich das Haus durchsucht hatte, brachten sie ihn wieder zurück.
Mit all jenen überzeugenden Worten, die Mitleid und Liebe eingeben konnten, bewogen sie ihn, sich zu ihnen zu setzen und zu hören, was sie ihm mitzuteilen hätten. Sie
Weitere Kostenlose Bücher