Der Rattenfänger
Fenster zu dem breiten grauen Strom.
Unwillkürlich stiegen Erinnerungen an seine Kindheit in ihm auf. Er war auf der Farm seiner Familie an den Ufern eines anderen großen Flusses, dem Delaware, in der kleinen hübschen Stadt Fort Penn, nur einen Tagesritt von Wilmington entfernt, aufgewachsen. Dort hatte er zusammen mit seinen Freunden die Bäche, Buchten und Deiche erforscht – zu Fuß oder in einem Kanu aus Birkenrinde.
Bis zu jenem entsetzlichen Tag.
Früh am Morgen war ein Reiterschwadron der Rotröcke über die Farm hergefallen, hatte die Familie aus den Betten getrieben, ihnen kaum Zeit zum Ankleiden gelassen und dann seinen Vater Samuel und seinen ältesten Bruder Robert durch die eingeschlagene Tür nach draußen und zu der niedrigen Hofmauer gezerrt.
Ein Lieutenant hatte den Schuldspruch verlesen: Widerstand gegen die Krone, Unterstützung der Rebellenarmee durch Proviant und Unterkunft. Sofortige Bestrafung. Noch ehe die Familienangehörigen das wahre Ausmaß des Urteils hatten begreifen können, war der knappe Befehl des Lieutenants an das Schießkommando zu hören gewesen und nur einen Herzschlag später das Krachen der Musketen.
Die Rotröcke hatten die Leichen an der Mauer liegen lassen. In Lees Gedächtnis hatten sich zwei Geräusche für immer eingegraben: die Marschschritte der abziehenden Soldaten und die schrillen Klageschreie seiner Mutter.
Anfangs war Lee von einem verzehrenden Rachedurst beherrscht worden. Sein Hass auf die britische Krone hatte wie Feuer in seiner Brust gelodert und sein Verlangen nach Rache nie nachgelassen. Im Verlauf der Jahre, als er reifer wurde, war aus dieser glühenden Wut eine schwelende Glut geworden, und er hatte gelernt, den richtigen Augenblick abzuwarten. Nie hatte er einen Plan geschmiedet, wann und wie er den Schwur, seine Angehörigen zu rächen, in die Tat umsetzen würde. Es war nur ein stummes Versprechen, dass irgendjemand irgendwo dafür werde büßen müssen.
Und eines Tages war Robert Fulton, der Künstler, Erfinder, Ingenieur, Selbstdarsteller, Philosoph und Revolutionär, in sein Leben getreten. Erst von da an hatte, in der wechselseitigen Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Freiheit und angefeuert von Fultons Genialität, in ihm allmählich ein Plan Gestalt angenommen, wie er seinen Rachedurst befriedigen konnte.
Das entfernte Läuten einer Schiffsglocke riss William Lee aus seinen unangenehmen Erinnerungen. Er betrachtete seine Hände und dachte an das Zittern, das ihn erfasste, als er die Nachricht aus dem winzigen Zylinder am Bein der Brieftaube genommen hatte. Der Kaiser hatte ihm die Mitteilung überbringen lassen, dass die Zeit des Wartens vorbei sei.
Obwohl seit seiner Begegnung mit Napoleon Bonaparte mittlerweile vier Wochen vergangen waren, schien ihm, sie habe erst gestern stattgefunden.
An jenem frühen Morgen hingen Nebelschleier über der Seinemündung und hatten dem Ort ein tristes Aussehen verliehen. Eine seltsame Stille hatte auf ihm gelastet, nur vom schrillen Schreien der Wasservögel unterbrochen – perfekt für den Probelauf: heiß und schwül im Sommer, windgepeitscht und eisig im Winter, vom Festland durch schlammige Wassergräben und tückisches Sumpfland getrennt. Allein ein Gewirr behelfsmäßiger Pfade aus verrottenden Bohlen führte durch dieses Gebiet.
Das Zielobjekt, eine Barke, lag mitten in der Seinemündung, solide verankert. Schwer wie ein eben aus der Tiefe aufgetauchtes schuppiges Ungeheuer, dümpelte sie auf dem Wasser.
In einer schwarzen, unauffälligen Kutsche, begleitet von seiner Eskorte, war der Kaiser mit seinem dunkelhäutigen Mameluck-Leibwächter und dem Marineminister, Admiral Denis Decres, vorgefahren. Decres hatte dem Kaiser geraten, Fultons Erfindung, dem Unterseeboot, noch einmal eine Chance zu geben. Kaiser Napoleon interessierte sich nicht sonderlich für die Marine. Aber Decres war Kommandeur aller nautischen Operationen gegen Britannien. Und der Kaiser schätzte den Admiral als Ratgeber.
Das Sperrgebiet wurde zusätzlich von einer Abordnung der Kaiserlichen Garde unter dem Kommando des einäugigen Veterans aus Bonapartes Italien- und Ägyptenfeldzügen, Major Jean Daubert, bewacht.
Während der Kaiser mit seiner Entourage zu dem Beobachtungsposten in einer verfallenen Scheune in Ufernähe gegangen war, hatte Lee mit zwei Mann Besatzung das Unterseeboot dreihundert Meter flussaufwärts manövriert.
An der Seite des ungeduldigen Kaisers, der in einem langen grauen Militärmantel
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