Der Rattenfänger
Fluss-Polizei blühte das Verbrechen an der Themse. Deshalb waren die Behörden auf jede mögliche Hilfe angewiesen.
Davey und seine Kumpane waren gewiss keine Engel, aber im Vergleich zu anderen Kriminellen nur ganz kleine Fische. Hawkwood und seine Kollegen drückten bei belanglosen Diebereien gern die Augen zu, wenn ihnen dadurch die großen Fische ins Netz gingen. Wie Mitglieder organisierter Banden von Dieben und Händlern, die im Auftrag Schiffsladungen stahlen oder Lagerhäuser entlang des Flussufers ausraubten.
»Na, was gibt’s, Davey? Hast du was für mich?«
Der Junge blickte sich vorsichtig um, so als fürchtete er, belauscht zu werden. Von seiner vorherigen Keckheit war nichts übrig geblieben, als er flüsterte: »Wir haben einen Toten gefunden, Mr. ’Awkwood.«
Der erste unbarmherzige Gedanke, der Hawkwood durch den Kopf schoss, war: Na, wenn der Junge heute Morgen nur einen Toten gesichtet hat, dann hat er wohl nicht richtig hingesehen.
Die Straßen der Hauptstadt waren zwar nicht mit Leichen übersät, aber Tote waren überall zu finden. Das Alter, Krankheiten und Gewalttaten forderten unter den Armen und Obdachlosen ihren Preis. In den dunklen Gassen der Elendsviertel war es nicht ungewöhnlich, dass täglich Leichen entdeckt wurden. Deshalb wunderte es Hawkwood, dass der Gassenjunge es für nötig hielt, ihm einen Toten zu melden. Denn er war ja an derartige Anblicke gewöhnt. Er wollte gerade etwas sagen, als ihn der Ausdruck in den Augen des Jungen daran hinderte.
»Aber, Mr. ’Awkwood, das ist kein gewöhnlicher Steifer. Der ist anders. Er ist einer von euch. Er ist ein Runner!«
9
Der Tote lag im Schlamm, den Kopf zur Seite gewandt. Ein Arm war ausgestreckt, als hätte er nach etwas greifen wollen. Der andere lag verdreht unter seinem Körper.
Am Fluss herrschte ein noch widerlicherer Gestank als in manchen Stadtvierteln. Ein Gebräu aus ekelerregenden Gerüchen – Teer, feuchtem Tauwerk, fauligem Brackwasser, vermodernder Vegetation und Kloaken – wetteiferte mit tausend anderen schädlichen, in Augen und Hals brennenden Dünsten aus den angrenzenden Gerbereien, Färbereien und Sägemühlen.
Vorsichtig stieg Hawkwood, den Boden abtastend, die holprige Steintreppe hinunter und fluchte, als seine Stiefel im stinkenden Schlick versanken. Der Junge hingegen lief flink wie eine Krabbe über die glitschigen Stufen. Über ihren Köpfen wölbte sich die Blackfriars Bridge von Ufer zu Ufer und warf einen scharfen Schatten auf Fluss und Böschung.
Zwei Kinder – Mitglieder von Daveys Bande – hockten auf der untersten Stufe und schnellten fluchtbereit hoch, als der Runner auftauchte. Auf den ersten Blick hatte er die beiden für Jungen gehalten, doch dann sah er, dass eins der Kleinen ein etwa neun- oder zehnjähriges Mädchen war. Nachdem Davey den beiden sagte, sie hätten von Hawkwood nichts zu befürchten, hob das Mädchen einen Stein auf und warf ihn in den Morast. Erst als sie zwischen den Würfen anfing hin und her zu hüpfen, begriff Hawkwood, dass die Kleine wohl eine Art Himmel-und-Hölle spielte. Der Junge hingegen setzte sich wieder auf die Treppe, bohrte in der Nase und schmierte die Popel an seine Kniehose. Trotz der dreckverschmierten Gesichter glaubte Hawkwood zwischen den beiden eine Ähnlichkeit zu entdecken. Vielleicht waren sie Geschwister.
Als sich Hawkwood über die von Fliegen umschwirrte Leiche beugte, stieg ihm ein widerwärtig süßlicher Fäulnisgeruch in die Nase. Er schluckte, um seinen aufsteigenden Brechreiz zu unterdrücken.
Es gelang Hawkwood nur mit Daveys Hilfe, den Mann umzudrehen. Beide zerrten und zogen, bis der schwarze Schlamm mit einem schmatzenden Geräusch die Leiche freigab. Aus den verschiedenen Körperöffnungen entwichen furzend Gase. Der säuerliche Geschmack in seiner Kehle ließ Hawkwood würgen. Er wischte Modder und matschige Halme von den Wangen des Mannes. Als er das aufgeblähte Gesicht erkannte, packte ihn das blanke Entsetzen.
Runner Henry Warlock war klein und drahtig, ein stets auf ordentliches Aussehen und gute Manieren bedachter Mann gewesen. Doch unter seiner Schüchternheit hatten sich ein scharfer Verstand und die Zähigkeit eines Terriers auf Verbrecherjagd verborgen. Auch er war, wie die meisten Runner aufgrund ihres Berufs, ein Einzelgänger und ein sehr fähiger und erfahrener Polizist gewesen.
Im Tod bot Runner Warlock keinen schönen Anblick. Sein Körper war aufgedunsen, und seine Haut hatte die fahle Farbe
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