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Der Rattenfänger

Der Rattenfänger

Titel: Der Rattenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James McGee
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eines Fischbauchs angenommen.
    An der scheinbar tiefen Wunde unter dem verfilzten Haar hinter dem linken Ohr erkannte Hawkwood sofort, dass Warlock eines gewaltsamen Todes gestorben war. Er überlegte, womit dieser tödliche Schlag ausgeführt worden war. Vielleicht mit einem Hammer.
    »Sieht aus, als hätten sich die Ratten schon über ihn hergemacht«, stellte Davey nüchtern fest und deutete auf die ausgestreckte rechte Hand. Der Junge schien weder den Gestank wahrzunehmen, noch erschütterte ihn der abscheuliche Anblick der aufgeblähten Leiche.
    Als Hawkwood das angefressene Fleisch sah, wischte er sich angewidert die Hände an dem Saum seines Rocks ab. »Woher weißt du, dass er ein Runner war, Davey?«, fragte er.
    Beinahe mitleidig entgegnete der Junge: »Tun Sie uns bitte einen Gefallen, Mr. ’Awkwood. Wir erkennen euch doch schon von weitem. Und außerdem haben wir den da gekannt, weil er Pen vor ein paar Wochen beim Klauen erwischt hat.«
    Davey deutete mit dem Kopf auf das Mädchen, ging dann neben der Leiche in die Hocke und sagte schniefend: »Der war in Ordnung. Nicht wie die anderen Greifer. Er hat sie nur verwarnt und laufen lassen. Sonst hätte man sie wohl aufs Gefängnisschiff geschickt.«
    Hawkwood wusste, dass viele seiner Kollegen Warlocks Mitleid für die Straßenkinder für eine Schwäche gehalten hatten, die sie ausnutzten. Normalerweise machten Polizeibeamte kaum oder gar keine Zugeständnisse bei der Festnahme von Verbrechern, ganz gleich, ob es sich dabei um Erwachsene oder Kinder handelte. Warlock hingegen hatte Ausnahmen gemacht. Den Grund für diese Nachsicht – manche nannten sie Torheit – kannten nur wenige, und die, die wie Hawkwood Bescheid wussten, sprachen nicht darüber. Warlocks junge Frau war bei der Geburt seines Sohnes gestorben und der Säugling eine Woche später vom Fieber dahingerafft worden. Dieses tragische Schicksal hatte Warlock wahrscheinlich zu einem Menschen werden lassen, der es nicht übers Herz brachte, ein neunjähriges Mädchen ins Gefängnis zu stecken. Denn eine achtjährige Strafe war für den Diebstahl eines Spitzentaschentuchs durchaus üblich. Auf dem Deck eines Gefangenenschiffs gäbe es kaum Platz für Spiele wie Himmel-und-Hölle, dachte Hawkwood bedrückt.
    Wie viele Menschen haben die Leiche hier liegen sehen?, fragte er sich und ließ den Blick übers Ufer schweifen. Auf der Blackfriars Bridge herrschte tagsüber ein reges Kommen und Gehen, und auf dem breiten Strom verkehrten ständig Boote und Schiffe aller Kategorien und Größen. Blackfriars war ein beliebter Liegeplatz für Bumboote, die dort verankerte Schiffe mit Proviant versorgten, und Anlegeplatz für Fähren, die Passagiere vom einen Ufer zum anderen beförderten.
    Weil die Leiche teilweise im Schlamm gelegen hat, hätte sie auch tagelang unentdeckt bleiben können, überlegte Hawkwood. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Passanten einfach weggeschaut und den Toten für das Opfer einer Schlägerei von Betrunkenen gehalten und den Gang zu den Behörden gescheut hatten, um Scherereien aus dem Weg zu gehen. Ein Tod, der keine Aufmerksamkeit erregt.
    Doch in diesem Fall würde es ein Nachspiel geben. Denn Henry Warlock war Beamter gewesen und brutal ermordet worden.
    Hawkwood war dem Tod auf mannigfaltige Weise begegnet. Im Krieg hatte er von Säbeln zerhackte und von Kanonenkugeln zerfetzte Körper gesehen. Und in seiner verhältnismäßig kurzen Laufbahn als Runner hatte er fast täglich mit Mord und Totschlag zu tun. Tote lassen einen Menschen nie unberührt. Bei einem Fremden kann man noch eine gewisse Distanz aufrechterhalten, doch der Tod eines bekannten Menschen ist immer ein Schock. Hawkwood hatte diese Erfahrung bei Gefallenen aus seiner eigenen Kompanie gemacht und erlebte jetzt, beim Anblick des aufgeblähten Leichnams von Henry Warlock, denselben inneren Aufruhr: ein Gefühl persönlichen Verlustes, eine Ohnmacht über die sinnlose Vergeudung eines Lebens und vor allem eine ungeheure Wut.
    Obwohl sich sein Körper vor Ekel schüttelte, machte sich Hawkwood daran, die Taschen seines toten Kollegen zu durchsuchen. Er fand nichts: kein Notizbuch, keine Münzen, keine persönlichen Dinge.
    Hawkwood nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. So unfassbar es ihm auch schien, Runner Warlock war anscheinend trotz seiner Erfahrung im Umgang mit Übeltätern aller Art einem der gewöhnlichsten Verbrechen Londons zum Opfer gefallen. Er war von demselben Abschaum ermordet und

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