Der Rattenzauber
Schreiben auf; denn um ein solches handelte es sich, verfaßt in feiner, kantiger Handschrift.
Verehrter Ritter und Zweifler, erlaubt mir zu gestehen, daß mir nicht wohl ist beim Verfassen dieses Briefes. Dies liegt nicht an Euch, Gott bewahre. Auch nicht daran, daß ich ungeübt wäre im Umgang mit der Feder, denn ich berichtete Euch ja, daß ich mir so manche Stunde durch bescheidenes Dichten versüße.
Nein, unwohl ist mir aus anderem Grunde.
Ihr müßt wissen, daß ich am heutigen Mittag Besuch empfing, ungeladenen Besuch. Zwei Männer, die sich nicht vorstellten, nach Sprache und Auftritt aber keineswegs zu den Ärmsten Hamelns gehörten, befragten mich nach dem Anlaß meines Hierseins. Ich gab ihnen ehrliche Auskunft, denn zweifellos wußten sie die Antwort lange vorher – warum sonst wären sie zu mir gekommen? Ich berichtete ihnen also, wie mir im fernen Florenz die Gerüchte über den Rattenfänger zu Ohren gekommen waren und ich ohne Zögern aufgebrochen war, um seiner Spur hinab in die Hölle zu folgen. Ihr, edler Ritter, vermögt Euch aus eigener Erfahrung vorzustellen, mit welchen Blicken die beiden mich bedachten. Nun, was auch immer sie über mich und mein Anliegen denken mochten, alles in allem schien ihnen meine Anwesenheit in der Stadt wenig zu behagen, denn sie legten mir nahe, Hameln umgehend zu verlassen. Es sei schwer, so sagten sie, in diesen Tagen die Sicherheit Reisender zu gewährleisten, und man wisse nie, welche Schurken in Durchgängen und Höfen auf einen lauern mögen. Daher hielten sie es für besser, wenn ich noch in der selben Stunde aufbräche, denn nur so sei gesichert, daß ich an Leib und Seele keinen Schaden nähme.
Nun frage ich Euch, edler Ritter, was soll man von solchen Sitten halten?
Freilich bin ich nicht dumm genug, die Warnung zu verpönen. Oh, ich bin ganz sicher, daß mich, würde ich länger in Hameln bleiben, schon in nuce ein Dolch aus dem Hinterhalt treffen würde. Ihr wißt, die Schatten sind in dieser Stadt dunkel und tief, und in jedem mag sich ein gedungener Mörder verbergen. Ich bin nur ein Student, liebe das Leben (und, nebenbei bemerkt, die Frauen), und mag mich mit einem frühen Ableben keineswegs abfinden. Ihr wißt, daß ich noch einiges vorhabe und meinen Abstieg in die Gefilde des Leibhaftigen nicht durch eine Klinge im Rücken, sondern lieber in aller Gemütlichkeit, vielleicht auf dem Rücken eines Pferdes, antreten möchte. Gestattet also, daß ich mich früher als erwartet und ohne den Euch gebührenden Abschied aus Hameln zurückziehe.
Dies nur, um Euch meine Beweggründe klarzumachen – und um Euch zu warnen! Zweifellos wird man an Euch nicht mit einer ähnlich plumpen Drohung herantreten. Immerhin seid Ihr ein Ritter des Herzogs und kein reisender Studiosus. Trotzdem glaube ich fest daran, daß man auch jeden Eurer Schritte beobachtet. Ich bin sicher: Solltet Ihr dem Geheimnis Hamelns zu nahekommen, wird man versuchen, Euch loszuwerden. Und beinahe hege ich die Befürchtung, daß man in Eurem Falle auf eine vorherige Warnung verzichten wird. Eine Klinge im Dunklen, ein Gift im Wein – das werden die Mittel sein, mit denen man sich Eurer entledigt. Gebt also acht, wohin Euer Weg Euch führt, und vor allem, wem Ihr vertraut.
Doch wer bin ich schon, dies einem wie Euch zu raten. Immerhin seid Ihr der Ritter, nicht ich.
Neben dieser Warnung überlasse ich Euch den Schädel des Albertus. Um ehrlich zu sein, er war mir nie sonderlich geheuer. Man beginnt, in ihm ein lebendiges Wesen zu sehen. Zudem glaube ich, daß Ihr bei Eurer Mission einen treuen Gefährten besser gebrauchen könnt als ich auf meiner Rückreise. Nehmt den Schädel also als Geschenk – möge er Euch alles Glück bringen, dessen Ihr bedürft.
Und, gepriesen sei meine elende Großherzigkeit, ein weiteres Geschenk will ich Euch machen. Mit Brief und Schädel erhaltet Ihr einige gerollte Blätter. Dabei handelt es sich um Abschriften frommer Reiseberichte. Ihr könnt Euch denken, wohin diese Reisen führten, nicht wahr? Nun, Ihr müßt wissen, daß ich auf meinen eigenen Wegen stets solche Abschriften bei mir führe, dienen sie mir doch als Inspiration und geistiger Antrieb. Da ich diese Texte in Florenz gleich in mehrfacher Ausführung besitze, bereitet es mir keinen Verlust, Euch diese hier zu überlassen. Lest sie – und lernt daraus! Es handelt sich um die Predigten des Julian von Vezelay, außerdem um die Niederschriften des Alberich von Settefrati, des Tungdal,
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