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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Reger von Wendover und weiterer gelehrter Geister. Zudem finden sich in der Rolle einige Auszüge aus dem Werk des Thomas von Aquin betreffs seiner Ansichten der Hölle. Und zuletzt, denn ohne sie wäre diese kleine Sammlung unvollständig, liegen auch einige Zeichnungen bei, die ich während der vergangenen beiden Jahre von Fresken, Figuren und Reliefen an gewissen Kathedralen anfertigte. Sie illustrieren die Schriften aufs trefflichste.
    Sicherlich seid Ihr meines Gefasels schon überdrüssig (wenngleich ich mir die allergrößte Mühe gebe, Eure Sprache ohne Fehler zu benutzen). Dabei fällt mir ein: Die beiliegenden Abschriften sind naturgemäß in lateinischer Sprache verfaßt. Da Ihr eine Hohe Schule besuchtet und zudem eine Tonsur tragt, vertraue ich darauf, daß Ihr des Lateinischen mächtig seid.
    Auf die Gefahr hin, Eure Aufmerksamkeit mit jedem weiteren Wort zu verlieren, muß ich Euch trotzdem bitten, diesen Brief bis zum Ende zu lesen. Denn was nun folgt, könnte ein wichtiger Hinweis für Eure weiteren Nachforschungen sein.
    Wie Ihr wißt, durchstreifte ich während meiner vier Tage in Hameln die tiefen, schwer zugänglichen Wälder auf und jenseits des Kopfelberges. Es gibt dort manch finsteren Tannengrund und viele verborgene Schluchten, verwunschene Haine, in denen es spuken mag oder auch nicht, außerdem zahllose Öffnungen im Gestein, die sich unter der Erde zu Höhlen ausweiten und deren Verlauf ich nicht bis zum Ende hätte folgen können, ohne meinen gesamten Hausstand hierher zu verlegen, so lang und ausgedehnt sind diese gewachsenen Grüfte. Mag sein, daß ich hier, mit sehr viel mehr Zeit und Geduld, gefunden hätte, wonach ich suchte – wenngleich ich es allmählich bezweifle. Müßte ein Ort wie die Hölle nicht eine gewisse Aura verbreiten, ein Gefühl des spürbar Bösen und Verdammten? Nun, obwohl ich das eine oder andere Mal durchaus Angst in der Schwärze jener Wälder und Kavernen verspürte, so bemerkte ich doch nie etwas derartig Schlechtes oder wahrhaft Höllisches, wie man es nahe den feurigen Klüften vermuten sollte.
    Kurzum: Den Teufel fand ich nicht, wohl aber jemanden anderes. Denn in den Wäldern auf der anderen Seite des Berges haust ein alter Einsiedler, ein höchst wunderlicher Mensch. Er sagt von sich selbst, er sei ein Nigromant, ein christlicher Geistlicher also, der sich auf die Anwendung von Magie und Zauberei versteht. Den Beweis dafür blieb er mir schuldig, doch werde ich die seltsame Ahnung nicht los, daß er mehr über die verschwundenen Kinder weiß, als manch anderer in der Stadt.
    Wie ich zu dieser Ansicht gelangte? Nun, Ihr sollt wissen, daß ich in einem dunklen Tannenhain, unweit der Höhle des Nigromanten, eine große Anzahl merkwürdiger Pflanzen entdeckte. Dem Wuchs nach handelte es sich zweifelsfrei um seltene Alraunen, Gewächse, deren Wurzeln die Form winziger Menschen haben. Es heißt, ihnen wohnen magische Kräfte inne. Ich zählte sie, und siehe da, es waren genau einhundertdreißig – eine für jedes verschwundene Kind!
    Der Weg zur Höhle des Einsiedlers ist nicht ohne Tücken, und ich vermag nicht, ihn Euch wiederzugeben, denn ich stieß selbst nur darauf, als ich mich dorthin verirrte. Ihr werdet also suchen müssen, wobei ich nicht weiß, ob Euch am Ende ein Erfolg beschieden ist (mir selbst verriet der Alte nichts). Dennoch glaube ich, daß Ihr es versuchen solltet. Es könnte die Mühe wert sein.
    Ich selbst werde mich nun auf die Reise begeben – leider nicht an mein erhofftes Ziel, statt dessen zurück in die Heimat. Zurück nach Florenz, in die Stadt der hohen, fensterlosen Türme, wo jeder vor jedem auf der Hut sein muß. Ein wenig vermisse ich trotz alledem den Battistero San Giovanni, den prächtigen Palazzo Vecchio, den Bargello und das Or San Michele. Besucht mich, wenn Ihr mögt, und Ihr werdet verstehen, was ich meine. Fragt in den Gassen nach Dante Alighieri.
    Erlaubt mir, Euch in Gedanken zu umarmen.
    In aller Freundschaft und Liebe
    Dante da Alighiero di Bellincione d’Alighiero

    Man vermag sich vorzustellen, in welche Wallung der Gefühle und Gedanken mich diese Zeilen stürzten.
    Die unerhörte Drohung, mit der man den Freund aus Hameln vertrieben hatte, vermochte mich nicht weniger zu erschüttern als seine Entdeckung auf dem Kopfelberg.
    Hundertdreißig Alraunen, für jedes Kind eine.
    Ich las den Brief ein zweites, dann ein drittes Mal. Danach erst öffnete ich die Papierrolle und warf einen kurzen Blick auf die

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