Der Rattenzauber
um mich zurück ins Dorf zu holen. Doch dann begriff ich, daß sie von unten drangen. Direkt aus der Erde.«
»Eure Familie war lebendig begraben worden.«
»Ja. Das Gift hatte nur zu einem Scheintod geführt. Niemand hatte es bemerkt. Ich begann, mit bloßen Händen zu graben. Ich schrie und weinte und stieß schließlich auf den ersten hölzernen Sargdeckel. Es war das Grab meiner Schwester, und von innen hörte ich das Schaben ihrer Fingernägel an den Brettern. Mit einem Stein rammte ich ein Loch in das Holz, so daß sie atmen konnte, dann machte ich mich ans nächste Grab.«
»Doch ihr kamt zu spät.«
»Meine Mutter und mein Vater waren schon tot. Erstickt. Im Todeskampf hatten sie ihre Fingerkuppen an dem groben Holz bis auf die Knochen abgeschabt.«
»Und was geschah mit Eurer Schwester?«
»Auch sie starb, nur wenige Stunden später. Ich lief zurück ins Dorf, und mein Schreien riß die Menschen aus ihrem Schlaf. Männer kehrten mit mir zurück auf den Friedhof und zogen meine Schwester aus dem Grab. Da atmete sie noch. Man trennte mich von ihr und brachte sie in eine Hütte. Kurz darauf überbrachte man mir die Nachricht, daß ihr Geist sich durch das Entsetzen und die Angst verwirrt habe, daß der Tod sie bereits fest im Griff gehabt und sie nun endgültig heimgeholt habe.«
»Und in der selben Nacht ranntet Ihr aus Hameln fort und wolltet niemals wiederkehren.«
Ich nickte schwach. »Man nahm mich am herzoglichen Hofe auf, bemerkte meine Gelehrsamkeit, ermöglichte mir das Studium an der Klosterschule und schlug mich nach meiner Zeit als Knappe zum Ritter.«
»Nun aber seid Ihr zurück.«
Plötzlich war mir, als erwachte ich aus einem furchtbaren Traum. Hatte ich ihr das wirklich alles erzählt? Was war es, das sie mit mir angetan hatte? Ein Zauber? Hexerei?
»Wie war der Name Eurer Schwester?« fragte sie.
»Juliane«, entgegnete ich, noch immer verwirrt.
Und da plötzlich überkam mich die Ahnung. Juliane. Und Julia. Schwester Julia!
Nein, unmöglich. Juliane war tot.
»Seid Ihr -?« fragte ich, doch sie unterbrach mich.
»Mein Name ist nicht Julia und nicht Juliane«, sagte sie mit leisem Spott. »Ich bin Margarete Gruelhot, die Tochter des Bürgermeisters von Hameln, Heinrich Gruelhot.«
Die Dunkelheit begann sich zu drehen, immer schneller und schneller. Mir schwindelte. Ich begriff nichts mehr.
Margarete Gruelhot. Auch von ihr hatte Dante gesprochen.
»Man sagte mir, die Tochter des Bürgermeisters sei gemeinsam mit den Kindern aus der Stadt verschwunden«, sagte ich schwach. Großer Gott, meine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
»Und doch bin ich hier«, entgegnete das Mädchen hinter dem Gitter.
»Ist dies der Hinweis, den Ihr mir geben wolltet?«
»Vielleicht.« Lachte sie etwa?
»Woher wußtet Ihr all diese Dinge über meine Kindheit?«
»Habt nicht Ihr selbst sie mir soeben erzählt?«
»Aber Ihr kanntet sie schon.«
»Mag sein.«
Wutentbrannt sprang ich auf und schlug mit der Faust gegen das Gitter. Dabei fiel die Sanduhr zu Boden und zerbrach mit schrillem Klirren. »Ich warne Euch, Schwester Julia oder wer immer Ihr seid. Treibt keine Scherze mit mir.«
»Nichts läge mir ferner, edler Ritter.«
Ehe ich noch etwas sagen konnte, meinte sie sanft: »Ich fürchte, unsere Zeit ist abgelaufen. Ich muß nun gehen.«
»Nein, wartet!« rief ich. »Wartet noch! Wer seid Ihr wirklich? Margarete Gruelhot? Oder meine Schwester?«
Ihre Stimme war nur ein Hauch. »Ach, mein Ritter …«.
Dann entfernten sich ihre Samtschritte leise vom Gitter.
»Schwester Julia!« schrie ich. »Schwester Julia!«
Doch die einzige Antwort war das Schweigen der schwarzen Kellergewölbe, der eisige Atem der Stille.
***
Vor der Kammertür warteten zwei grobe Kerle, Stallburschen der Klarissenschwestern. Ein jeder überragte mich um Haupteslänge. Kein Protest, keine Drohung half. Höflich, aber bestimmt wurde ich zum Tor des Klosters gedrängt.
Zuletzt übermittelten mir die beiden eine Botschaft der Äbtissin: Ich sollte niemals wiederkehren.
Dann ließen sie mich im Regen stehen und verriegelten von innen das Tor.
Ich war erschöpft, meine Verwirrung grenzenlos. Müde und in einem seltsamen geistigen Taumel gefangen, raffte ich den Mantel zusammen und schlug die Kapuze hoch. War Julia Juliane? Oder Margarete? Vielleicht keine von beiden.
Ich war entsetzt, wie leicht sie mir die Ereignisse meiner Kindheit entlockt hatte; entsetzt weniger über sie als über mich selbst.
Weitere Kostenlose Bücher