Der Rattenzauber
erstarrte Kerzenflammen.
Gruelhots Gattin war deutlich jünger als er selbst, vielleicht dreißig. Falls Schwester Julia wirklich die Tochter des Bürgermeisters war, so konnte diese Frau schwerlich ihre leibliche Mutter sein. Dazu war sie schlichtweg zu jung.
Nachdem alle Besucher Platz genommen hatten, versank die Gemeinde in stillem Gebet. Mit gefalteten Händen und gesenkten Köpfen blickten sie hinab in ihre Schöße, als sei dort der Schlüssel zum Heil verborgen (und sicherlich waren nicht wenige unter den Versammelten, die im geheimen tatsächlich dieser Ansicht waren).
Da öffneten sich plötzlich, unter dem Klang schwerer Glocken, die Türen neben dem Altar. Der Presbyter trat in die Halle, ein Rauchfaß schwingend, und mit ihm legte sich der Geruch von Weihrauch und Thymian über die Betenden. Ein Diakon folgte ihm mit einer brennenden Kerze und deklamierte die Worte des Schöpfungsaktes, als Gott sprach: »Es werde Licht!« Die Gemeinde verfiel in den Gesang des 104. Psalms, während die Priester aufs erste in ihr Heiligtum zurückkehrten und die Türen hinter sich schlossen.
Gemäß dem Ablauf der Sonntagsliturgie wiederholte sich dieser Vorgang mit gleichem Hergang und anderen Gesängen noch einmal, dann blieben die Priester für Stunden verschwunden. Die Gemeinde sang derweil eine Vielzahl von Buß- und Klageliedern und bat mit wiederholtem »Kyrie eleison!« den Schöpfer um Erbarmen.
Immer wieder sah ich während der Gebete auf und beobachtete die Stiftsherren und den Bürgermeister. Sie alle schienen in Reue versunken, nicht einer sprach ein Wort mit dem anderen, keiner blickte öfter auf als nötig oder unterbrach gar seine frommen Pflichten.
Während nicht wenige der übrigen Anwesenden zeitweilig in Schlaf verfielen, wußten die hohen Würdenträger genau, was ihnen ihr Stand abverlangte.
Im Morgengrauen, als die Kerzen niederbrannten und von flinken Kirchendienern erneuert wurden, ertönte aus dem Heiligtum der Priester ein gedämpftes »Ehre sei Gott in der Höhe«. Sogleich verstummten die Gläubigen in ihren Gebeten, die Geistlichen traten unter lobsingenden Chören hinter den Altar und ein Priester begann die Predigt.
Alle lauschten gebannt seinen Worten, ich aber hatte anderes im Sinn. Während meiner Ritterweihe hatte ich an zahlreichen Sonntagsliturgien teilgenommen, und stets hatte mich diese Pflicht mit Freude erfüllt. Jetzt aber schien mir jede Stunde verschenkt, denn die Ankunft des Herzogs rückte unaufhaltsam näher. Es galt, endlich Ergebnisse zu erzielen und die Nachforschungen einem Abschluß entgegenzutreiben.
Ungeduldig und von Müdigkeit ergriffen sah ich zu, wie die Priester die Opfergaben der Gläubigen einsammelten. Wein und Brot wurden dargereicht und das Abendmahl vollzogen. Als draußen die unsichtbare Sonne über der Wolkendecke ihre Mittagshöhe erreichte, fand der Gottesdienst endlich ein Ende. Nach zwölf Stunden frommer Versprechen, bereuter Sünden und froher Unterwerfung erhoben sich die Gläubigen, streckten ihre verkrampften Glieder und strömten aus dem düsteren Gotteshaus in das noch dunklere Grau eines neuerlichen Regentages.
Vor der Kirche zerstreute sich die Menge in aller Eile, und da man Stiftsherren und Stadtrat den Vortritt gewährte, kam ich um einiges später als jene hinaus auf den Marktplatz. Eben noch sah ich, wie Gruelhot und seine Familie auf einen Pferdewagen stiegen und davonfuhren. Zornig blickte ich mich um, ob noch einer der Stiftsherren zugegen war, doch auch die Kutschen des Vogts und des Dechanten preschten durch eine Schneise zwischen den Menschen davon.
Im selben Augenblick legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter. Als ich herumfuhr, meine Finger unter dem Kapuzenmantel schon am Dolch, blickte ich in das Gesicht Gunthar von Wetteraus. Der Probst verbeugte sich höflich.
»Verzeiht, edler Ritter, wenn ich Euch erschreckte«, sagte er. »Seid versichert, daß dies keineswegs in meiner Absicht lag.«
Ich nickte unwirsch und wollte etwas entgegnen, doch er kam mir zuvor und nannte seinen Namen.
»Wenn meine Beobachtung richtig war, wolltet Ihr mit dem Bürgermeister sprechen, nicht wahr? Nun, wenn Ihr statt seiner mit mir vorliebnehmen wollt, mögt Ihr mich gern in mein Haus begleiten.«
Die wenigen Menschen, die noch vor dem offenen Kirchentor standen, schenkten uns keine Beachtung. So bestand keine Gefahr, mich zu erkennen zu geben.
»Habt Dank«, erwiderte ich salbungsvoll. »Gerne nehme ich Euer Angebot an,
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