Der Rattenzauber
lateinischen Schriften. Ich würde sie später lesen und die Zeichnungen, etwa ein Dutzend, genauer betrachten.
Nachdenklich legte ich die Papiere beiseite und streckte mich auf dem Bett aus.
Als ich den Blick zur Seite drehte, sah ich direkt ins Gesicht des Bronzeschädels.
War da ein Funkeln in seinen metallenen Augen?
»Sag du mir, was ich denken soll«, flüsterte ich leise.
Doch der Kopf gab keine Antwort.
***
Hunderte Kerzen warfen ihren zuckenden Schein über die Kirchenwände. Die Spiegelungen ihrer Flammen tanzten als schillernde Funken über hohe Spitzbogenfenster. Welch ein Lichterspiel sie schufen, welch ein Funkeln und Blitzen, Flackern, Lodern und Gleißen, welch Flirren, Glühen und Leuchten – ein eigenes Firmament aus zahllosen Sternen, mal hell und strahlend, mal zitternd und vergänglich. Tagsüber mochte dies prachtvolle Schauspiel einem anderen weichen: Sonnenlicht, das in farbigen Kaskaden durch die Fenster floß, Säulen aus flitternden Staubkörnern, die sich neben jene aus Stein gesellten. Jetzt aber herrschte draußen Dunkelheit; nicht die Regenfinsternis der Hamelner Tage, sondern die pure, makellose Schwärze der Nacht.
Es war kurz vor Mitternacht, und das Gotteshaus füllte sich mit Dutzenden von Menschen, Armen wie Reichen, Jungen und Alten. Allein Kinder waren nirgends zu sehen.
Ich war bereits eine ganze Weile zuvor eingetroffen und hatte von dem alten, krummbeinigen Kirchendiener die Sitzplätze der wichtigsten Stadtoberen erfahren. Und nun, da sich allmählich auch die letzten freien Sitze auf den harten Eichenbänken füllten, sah ich von meinem Platz aus die mächtigsten Männer Hamelns aufmarschieren wie Darsteller einer griechischen Tragödie.
Da war allen voran Graf Ludwig von Everstein, Vogt des Hamelner Kirchenstifts und Statthalter des Mindener Bischofs. Er saß mit seinem Gefolge aus Stiftsherren in der ersten Reihe, ein großer, hagerer Mann mit hellgrauen Augen wie Eiskristalle. Er trug prächtige Kleidung, farbenfroh und besetzt mit allerlei Stickereien und Broschen, was die Farblosigkeit seiner Haut und den eisigen Blick noch stärker hervortreten ließ. Er vermittelte wenig vom Eindruck kirchlicher Demut, vielmehr war sein Auftritt der eines überheblichen Edelmanns, dem Willkür und Grausamkeit voraneilten wie die Vögel einem Orkan.
Anders als der Vogt war sein Stellvertreter Gunthar von Wetterau, der Probst und Vorsteher des Stifts, von erstaunlicher Jugend. Er schien mir allerhöchstens zehn Jahre älter zu sein als ich selbst, zweiunddreißig demnach. Auch er trug teure Stoffe, allerdings ohne die verspielten Ornamente und Verzierungen, wie sie dem Grafen von Everstein zu zweifelhafter Zierde gereichten. Gunthar von Wetterau mußte die Stufen der kirchlichen Hierarchie im Sturm genommen haben, und wahrlich erschien er mir mit seiner schlanken, kraftvollen Gestalt und den entschlossenen Zügen eher wie ein Kämpfer denn wie ein Mann des christlichen Glaubens. So wie ihn hatte ich mir an langen Winterabenden voller Geschichten am Feuer die tapferen Recken vorgestellt, die dereinst gen Osten zogen, um die Heiligen Stätten von der arabischen Heidenpest zu säubern. War Ludwig von Everstein der Mann, der die politischen Geschicke des Kirchenstifts – und damit wohl ganz Hamelns – bestimmte, so oblag es Gunthar von Wetterau als Probst, diese Entscheidungen in die Tat umzusetzen.
Dem dritten Mann dieses Dreigestirns war somit allein die geistliche Leitung des Stifts unterstellt: Johann von Lüde, der Dechant, kümmerte sich allein um die vergleichsweise geringen Anliegen einzelner Gläubiger, um die Vorbereitung von Messen und alltäglichen Entscheidungen. Seiner farblosen Stellung entsprach auch sein Äußeres. Grauhaarig, blaß und ohne ersichtliche Charakterzüge blieb er an körperlicher Ausstrahlung weit hinter Graf von Everstein und Gunthar von Wetterau zurück. Alle drei trugen Tonsuren am Hinterkopf.
Der vierte wichtige Mann, den ich im Gottesdienst zu treffen gehofft hatte, war der Bürgermeister von Hameln, Heinrich Gruelhot. Mit seiner Familie – einer erstaunlich schönen Frau und zwei kleinen Töchtern – saß er in der zweiten Reihe. Er mochte auf sein fünfzigstes Jahr zugehen und hatte während seiner zweijährigen Amtszeit einiges an Gewicht zugesetzt. Sein Haar war feuerrot, jedoch so dicht wie das eines Knaben und von loderndem Glanz, um den ihn wohl manche Frau beneiden mochte. Ein spitzer Bart zierte sein Kinn, glutrot wie eine
Weitere Kostenlose Bücher