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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Seit Jahren hatte ich keinem davon erzählt. Warum jetzt diesem fremden Mädchen, einer Nonne im feuchten Keller eines Klosters?
    Und woher hatte sie ihr Wissen über mich?
    Möglich, daß der Bürgermeister darüber Bescheid wußte. Der Tod meiner Familie lag kaum anderthalb Jahrzehnte zurück, und Geschehnisse wie diese überdauern beim Volk sehr viel längere Zeiten. Falls Julia also in Wahrheit Margarete Gruelhot war, mochte sie durch ihren Vater von mir gehört haben.
    Mein erster Weg mußte mich demnach zu ihm führen. Ohnehin war es längst an der Zeit, den Stadtoberen einen Besuch abzustatten, und Gruelhot mochte ein guter Anfang sein.
    Ich ging auf der Straße, die Nordtor und Marktplatz miteinander verband, nach Süden. Rechts von mir lagen die äußeren Hütten und Ställe des Dorfes, links die Holz- und Steingerippe der Baustellen. Tagelöhner schwirrten in Scharen über die Mauern, einige holten mit Eimern das Wasser aus den Gruben und verfluchten die Sinnlosigkeit ihres Tuns. Ochsenkarren kamen mir auf ihrem Weg zu den Feldern entgegen. Niemand schenkte mir Beachtung. Falls man mich trotzdem erkannte, hieß das wohl, daß die Mordlust des vergangenen Tages vorerst verflogen war. Dies mochte ein Grund zur Erleichterung sein, nicht aber für Leichtsinn. Ich zog mich tiefer in den Schatten der Kapuze zurück, und erstmals kam mir der Regen zugute. Bei diesem Wetter erregte der Mantel kein Aufsehen, denn auch andere verbargen sich unter Hauben und Überwürfen.
    Auf dem Marktplatz erinnerte nichts mehr an die Feuerkatastrophe des vorgestrigen Tages. Die Trümmer des Scheiterhaufens waren weggeräumt, Asche und Blut davongespült. Der Kirchturm warf seinen langen Schatten über den Platz, und ihm gegenüber stand die imposante Mysterienbühne, groß wie drei Häuser, und erwartete den Fortgang des Spiels. Auch hier waren einige Arbeiter am Werk; sie seilten sich an den drei Stockwerken der Bühne auf und ab, sägten Wolkenkulissen für den Himmel und hölzerne Flammen für die Hölle. Im Mittelteil, der die Welt der Menschen symbolisierte, hatte man drei Kreuze aufgestellt: ein großes, doppelt mannshohes in der Mitte, zwei kleinere rechts und links davon. Die Kreuzigung Christi rückte näher.
    Vor dem Eingang des Rathauses standen zwei Soldaten der Stadtwache und versperrten mir mit gekreuzten Hellebarden den Weg.
    »Wohin wollt Ihr, Herr?« fragte der eine.
    Ich nannte ihnen meinen Namen; dabei hatte ich den Eindruck, daß sie ihn längst kannten.
    »Dann begehrt Ihr den Bürgermeister zu sprechen«, stellte der zweite Wächter fest.
    »So ist es.«
    »Tragt Ihr einen Beweis bei Euch, der uns versichert, daß Ihr wirklich ein Ritter des Herzogs seid?«
    Aufgebracht straffte ich meine Haltung und sah dem dreisten Kerl offen in die Augen. »Was wagt Ihr?«
    »Befehl des Stadtrats«, verteidigte er sich ungerührt. »Wir dürfen nur Bittsteller einlassen, die sich ausweisen können.«
    »Bittsteller?« zischte ich mit schneidender Stimme. Meine Rechte zuckte unter dem Mantel zum Dolch.
    Die Bewegung ließ ihn seine Worte bereuen, und er verbesserte sich eiligst: »Ratsuchende, Händler und Botschafter.«
    Ich hätte ihn erschlagen mögen, jetzt und auf der Stelle. Ich war sicher, es mit beiden aufnehmen zu können, doch noch behielt ich mich eisern im Griff. Es war eine ungute Vorstellung, dem Bürgermeister über den Leichen seiner Knechte gegenüberzutreten. Ich verfluchte mich für die Leichtfertigkeit, mit der ich das Schreiben des Herzogs beim Graf von Schwalenberg zurückgelassen hatte. Es war der nötige Nachweis, der mir nun fehlte.
    »Ihr werdet umgehend den Weg freimachen«, befahl ich grob, »sonst werden Eure Meister von diesem Vorfall erfahren.«
    »Aber, teurer Ritter, sie waren es doch, die uns die Order gaben.«
    »Etwa die Order, mir, einem Diener des Herzogs von Braunschweig, den Eintritt zu verwehren?« Mein Zorn drohte mich zu übermannen.
    »Nur so lange Ihr nicht beweisen könnt, daß Ihr wirklich ein Ritter seid, edler Herr.«
    Einige Herzschläge lang schien ein handfester Streit unausweichlich. Dann besann ich mich eines Besseren. Der Herzog sollte in wenigen Tagen eintreffen; was würde er denken, wenn man ihn als erstes mit der Nachricht überfiele, sein Ritter habe zwei Stadtwachen bei der Ausübung ihrer Pflicht erschlagen?
    Wutentbrannt wirbelte ich herum und zog von dannen. Es gab andere Gelegenheiten, mit Gruelhot zu sprechen. Es würde nicht schwer sein, zu erfahren, wo er

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