Der Rattenzauber
höhnisch. »Hört ihr, wie er leugnet? Hört ihr, wie er winselt? Ich sage: Greift ihn euch!«
In einer einzigen Bewegung stürmten die Arbeiter auf mich los, und das letzte, was ich sah, bevor ich die Flucht ergriff, war das hämische Grinsen auf Ludwigs Gesicht. Dann rannte ich los, fort vom Markt, auf das Rathaus zu. Dort wollte ich Schutz suchen, doch als ich in die Gesichter der Wachtposten sah, wußte ich, daß sie mir keinen Einlaß gewähren würden. Fluchend und in nackter Todesangst schlug ich einen Haken, wich ihnen aus und lief entlang eines Trampelpfades durch die Bauwüste nach Süden. Vielleicht konnte ich bei von Wetterau Zuflucht finden; wenn nicht bei ihm, dann beim Graf von Schwalenberg.
Schlamm spritzte, Wasser durchnäßte meine Kleidung. Ich lief eine ganze Weile den offenen Weg hinunter, gefolgt vom Gröhlen und Brüllen der Menge. Ich begriff, daß ich verloren war, falls es mir nicht sogleich gelingen würde, mich vor den Verfolgern zu verbergen. Ich zweifelte, daß ich bis zum Marktviertel kommen würde, trotz aller Flinkheit meiner Beine. Eine List, zumindest aber ein Versteck, waren das einzige, das mich retten konnte.
Ich bog nach rechts, mitten in den breiten Ruinenstreifen zwischen Weg und Weser. Der schwarze Sumpf zerrte an meinen Füßen, verlangsamte meine Schritte als auch die meiner Verfolger. Ich hörte, wie sie sich untereinander etwas zuriefen, das über Verwünschungen und Flüche hinausging. Sie teilten sich. Einige Männer blieben auf dem Weg, um die Bauruinen zu umrunden und mich auf der anderen Seite in Empfang zu nehmen. Auf dem Weg waren sie schneller als ich, und meine Aussicht, vor ihnen den Fluß zu erreichen, war denkbar gering. Vielleicht würde es mir gelingen, in einer der Gruben Unterschlupf zu finden. Wenn ich tief genug in das schmutzige Wasser eintauchte und meinen Leib mit Schlamm beschmierte …
Im selben Moment sah ich die Ratten. Sie waren überall. Längst hatte ich mich an ihr Wimmeln und Zucken rechts und links der Wege gewöhnt, doch hier, in diesem Ödland, ging eine besondere Bedrohung von ihnen aus. Hier fühlten sie sich zu Hause, hier war ich es, der ihr Herrschaftsgebiet betrat, unerlaubt, unerwünscht. Ihre Blicke aus hundert schwarzen Augenpaaren funkelte mir voller Kampfeslust entgegen. Wohin ich auch sah, überall suhlten sie sich im Schmutz. Vor mir, neben mir. Und hinter mir tobte der schreiende Pöbel. Ich hatte keine andere Wahl, als tiefer ins Reich der Rattenbrut zu irren.
Ich bog um eine Ecke und betrat das Netz von Brettern, das den Schlamm wie Stege durchkreuzte. Das Holz war naß und schlüpfrig, und schon nach wenigen Schritten mußte ich einsehen, daß das Laufen darauf schwieriger war als im zähen Morast. So sprang ich wieder hinunter, versank bis zu den Knöcheln, hörte hinter mir die Schreie der Verfolger und bemerkte zugleich, daß ich an dieser Stelle nicht weiter kommen würde. Panisch raste mein Blick durch die Umgebung. Neben mir, an der Seitenwand eines halbfertigen Hauses, führte ein Bogenfenster hinab in ein Kellergewölbe. Ohne nachzudenken, warf ich mich zur Seite. Die Wucht löste meine Füße mit einem Schmatzen aus dem Schlamm. Kopfüber fiel ich durch die Öffnung. Ich stürzte durch die Dunkelheit und landete schließlich in hüfthohem Wasser. Auch hier unten hatte die Nässe keinen Widerstand gefunden. Oben am Fenster hastete die aufgebrachte Menge vorüber. Mein Verschwinden war offenbar unbemerkt geblieben. Sicher nahm man an, daß ich über die Bretter hinweg tiefer ins Labyrinth der Bauruinen geflohen war. Zumindest einen Moment hatte ich gewonnen, um Luft zu holen und mein weiteres Vorgehen zu bedenken.
Ehe ich aber einen klaren Gedanken fassen konnte, spürte ich, daß ich mich nicht allein in diesem Gewölbe befand. Um mich herum herrschte vage Bewegung, etwas streifte meine Beine im eiskalten Wasser. Das Licht, das durch das Fenster hereinfiel, beleuchtete einen Umkreis von einem, höchstens zwei Schritten. Alles, was dahinter lag, versank in der Finsternis. Das eiskalte Wasser reichte mir fast bis zum Nabel. Es wimmelte nur so von Ratten. Noch duldeten sie mein Eindringen, ohne mich anzugreifen. Doch allein der Gedanke ihrer schwarzen, struppigen Leiber, die mich auf allen Seiten umgaben und geisterhaft meine Glieder umspielten, versetzte mich in haltloses Grauen. Ein Entsetzen überkam mich, jenseits aller Angst vor der Henkersmeute; diese Furcht war anderer Natur, sie stieg herauf aus den
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