Der Rattenzauber
vorgefallen ist. Niemand redet darüber, auch nicht mit uns. Doch wenn Ihr meine Meinung hören wollt: Ich glaube, daß es die Heiden vom Friedhof waren. Viele unter ihnen sind Mörder und Verbrecher. Ihnen ist es zuzutrauen, unbemerkt nachts in fremde Häuser zu schleichen und die Kinder aus den Betten zu reißen. Ich bin sicher, eines Tages wird man ihre toten Körper finden, und das Rätsel wird sich lösen.«
»Ihr sagtet, Meister Nikolaus sei bereits vor fünf Monaten nach Hameln gekommen.«
»Das stimmt – um die Arbeiten vorzubereiten.«
»Dann war er bereits hier, als die Kinder verschwanden.«
»Ja.«
»Haltet Ihr es denn für möglich, daß er mehr darüber wußte? Mehr als Ihr und ich?«
Ludwigs Ausdruck blieb feindselig. »Sicher trug der Meister keine Schuld an den Ereignissen«, sagte er scharf.
»Niemand hat das behauptet«, entgegnete ich. »Doch könnte es nicht sein, daß er wußte, was geschah? Vielleicht machte er eine Beobachtung oder hörte etwas von den Tagelöhnern. Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu erfahren, das nicht für die eigenen Ohren bestimmt ist.«
»Ihr seid offenbar wenig erfolgreich darin«, bemerkte Aribo mit einer Heftigkeit, die ich ihm kaum zugetraut hatte.
Ich überging seinen Einwurf und hielt meinen Blick unverwandt auf Ludwig gerichtet. »Nun?«
»Falls er etwas wußte, so sprach er nicht darüber.«
Ich erlaubte mir ein Lächeln. »Ihr sprecht stets für Eure ganze Zunft, Meister Ludwig. Dabei hat Euer Freund hier doch selbst eine freche Zunge.«
Aribo schnaubte verächtlich. »Der Meister sprach selten mit mir.«
Ich nickte. »Das nahm ich an.«
Aribo wollte auffahren, doch Ludwig hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Glaubt Ihr, man habe Meister Nikolaus getötet, weil er zuviel wußte? Ist das Euer Verdacht, edler Ritter?«
»Möglicherweise.«
Darauf schwiegen die beiden jungen Baumeister. Konnte es wirklich sein, daß ihnen dieser Gedanke noch nicht selbst gekommen war?
Eine Antwort blieben sie mir schuldig, denn im selben Augenblick erklang aus der Richtung der Bühne ein hoher, schriller Schrei. Unsere Köpfe ruckten herum. Erst glaubte ich, einer der Arbeiter habe sich verletzt, sei vielleicht von einem der Balken in die Tiefe gestürzt. Doch nichts dergleichen war geschehen. Imma, die Frau des Hufschmieds, stand am Fuße der Bühne, die dürre Knochengestalt hoch aufgerichtet, und wies mit ausgestrecktem Arm auf – mich!
»Da ist er!« rief sie, und alle, die bei ihrem ersten Schrei verstummt waren und ihre Arbeit abgebrochen hatten, blickten nun in meine Richtung. Schweigen breitete sich über den Markt und das Gerüst der Mysterienbühne. Zahllose Augenpaare starrten mich an. Ludwig gab Aribo einen Wink, und die beiden traten zurück.
Ein Gegenstand sauste durch die Luft und schlug mit hellem Klappern wenige Schritte vor mir aufs Pflaster. Es war ein Hammer; einer der Tagelöhner am oberen Rand der Bühne hatte ihn geschleudert. Noch immer sagte niemand ein Wort. Imma stand da wie erstarrt, den Arm anklagend in meine Richtung gereckt – fast so, als sei ich selbst schuldig am Verschwinden ihrer Kinder.
Einen Herzschlag lang erwog ich, das Gespräch mit der bedrohlichen Menge zu suchen, dann verwarf ich den Gedanken. Niemand wollte mit mir reden. Und ein zweites Wurfgeschoß würde vielleicht sein Ziel nicht mehr verfehlen. Ich machte erst einen, dann einen zweiten und dritten Schritt zurück.
Ein leises, anschwellendes Grollen ging durch die Menge. Mehrere Tagelöhner glitten an ihren Seilzügen zu Boden. Es wäre Ludwigs oder Aribos Aufgabe gewesen, sie zur Ordnung zu rufen, doch die beiden verharrten reglos. Sie ließen es geschehen, daß immer mehr Männer von der Bühne stiegen und dabei nach einem Werkzeug griffen. Plötzlich sah ich mich einem ganzen Arsenal von Hämmern, Knüppeln und Beilen gegenüber. Haß und Wut griffen um sich wie ein Waldbrand, steckten einen nach dem anderen an. Von Wetteraus Befehl, mich in Frieden zu lassen, verlor mit jedem Schritt, jedem Blick an Bedeutung.
»Er hat seine eigenen Eltern vergiftet!« stachelte Imma die Menge an. »Und nun kommt er her, um über uns zu richten!«
Die Frau hatte recht. Ich hatte sie vergiftet. Vater, Mutter und Juliane. Aber damals war ich ein Kind, und nichts von dem, was passierte, geschah mit Absicht.
Es war ein Versehen, wollte ich den Menschen entgegenbrüllen, und ehe ich mich versah, hatte ich die Worte herausgeschrien.
»Ein Versehen«, rief Imma
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