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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schlünden der Abscheu, ein furchtsames Erbe aus den Zeiten unserer Väter – damals, als der Mensch dem Tier noch ausgeliefert war.
    Ich wagte kaum mich zu bewegen. Ich wußte, daß die rasende Menge nicht aufgeben würde. Die Männer würden ausschwärmen und das ganze Gebiet absuchen. Diesmal war es keineswegs mit einem Sprung in den Fluß getan. Ich ahnte bereits, daß sich meine Zeit in Hameln dem Ende zuneigte, und doch war ich nicht gewillt, einfach aufzugeben. Der Gedanke an die Ankunft des Herzogs hielt mich aufrecht. Er hatte mich hierhergesandt, seinen Auftrag galt es zu erfüllen, und er würde nicht dulden, daß sich eine ganze Stadt gegen seinen Willen erhob. War er erst einmal hier, so war auch ich in Sicherheit. Und langsam, ganz langsam kam ein Verdacht in mir auf. Es gab keinen Beweis für meine Ahnung, nichts, das ich dem Herzog zu Füßen legen konnte. Und doch – der Schädel hatte recht behalten: Die Antwort lag längst in mir.
    Ich spürte ein plötzliches Zwicken an meinem rechten Bein, und ehe ich mich versah, wurde es zu einem reißenden, lodernden Schmerz. Meine Hand fuhr hinab ins Wasser, umklammerte die Ratte, die sich in meinem Fleisch verbiß, und zerrte an ihr mit aller Kraft. Die Pein, die dabei mein Bein durchraste, war noch schlimmer als der Biß. Ich hielt das strampelnde, schreiende Tier in der Hand und schleuderte es mit Wucht in die Schwärze. Mit einem ekelhaften Bersten krachte es gegen die Wand und sackte ins Wasser.
    Die Wunde blutete, ohne Zweifel, und es würde nicht mehr lange dauern, bis auch die übrigen Ratten ihren letzten Respekt vor meiner Größe überwinden und zum Abgriff übergehen würden. Ich wußte nicht, wie viele von ihnen sich in diesem Loch befanden, doch ich rechnete mit dem Schlimmsten. Es mochten Dutzende sein, vielleicht Hunderte. Verfielen sie erst in einen Blutrausch, gab es für mich keine Hoffnung mehr. Ich mußte hinaus. Doch dort draußen erwartete mich ein Schicksal, das nicht weniger ungewiß war. Die Menge würde sich nicht die Zeit lassen, mich anzuhören. Beschreibungen des Wappenvogels aus Blut über der Leiche des Kindes mußten durch die Stadt gerast sein wie ein Lauffeuer. Für die Menschen gab es keinen Zweifel daran, daß ich der Mörder war.
    Und wenn sie recht hatten?
    Ich verdrängte alle weiteren Gedanken, Zweifel und Überlegungen. Mein einziges Streben mußte meiner Flucht aus diesem Keller gelten. Alles andere mochte sich später ergeben.
    Das Gewölbefenster klaffte einen Schritt über mir. Ich streckte beide Hände danach aus, ging unter Wasser in die Knie und stieß mich mit aller Kraft vom Boden ab. Ich bekam den Fensterrand zu fassen, stemmte mich trotz des Gewichts meiner nassen Kleidung in die Höhe und versuchte, ein Knie nachzuziehen und auf der Kante abzustützen. Kaum war es mir gelungen, als im gleichen Augenblick ein feuriger Schmerz durch das andere Bein schoß, das immer noch bis zur Wade im Wasser hing. Gleich zwei Ratten hatten sich in meinem Fleisch verbissen. Ich unterdrückte mit aller Willenskraft einen Schrei und zog das Bein statt dessen ganz nach oben, bis ich vollends im Fenster hockte. Angewidert schlug ich auf die beiden Tiere ein, die immer noch an meiner Wade hingen, und schleuderte sie zurück in die naßkalte Schwärze. Ein grelles Kreischen drang herauf, als sie unter ihresgleichen fielen. Ich flehte zu Gott, daß die Laute der wütenden Tiere nicht bis ins Freie drangen.
    Das Mauerwerk war breit genug, um mir den nötigsten Schutz zu bieten. Ich wagte kaum, den Kopf nach vorn zu schieben, aus Angst, man könne mich entdecken. Die Rufe meiner Jäger waren in der Ferne deutlich zu hören, trotzdem mochte es sein, daß einige von ihnen sich ganz in der Nähe aufhielten, vielleicht lautlos durch die Ruinen schlichen und schweigend nach mir Ausschau hielten.
    Mir blieb keine Wahl. Je länger ich tatenlos in der Fensternische saß, desto größer war die Gefahr, entdeckt zu werden. Ich mußte von hier verschwinden und ein besseres Versteck ausfindig machen. Vielleicht konnte ich später, nach Anbruch der Nacht, zur Herberge schleichen und meine Besitztümer packen. Ich war keineswegs bereit, meine größten Schätze dieser Meute zu hinterlassen. Schwert, Bibel und Bronzekopf, außerdem mein Pferd, waren alles, was ich mein eigen nannte. Ich mußte sie zurückerlangen – obgleich ich, zumindest was den Rappen anging, wenig Hoffnung hegte. Es war nahezu unmöglich, ihn ungesehen aus dem Stall zu

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