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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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fast Erhabenes aus. Doch ihr Gesicht strafte diesen Eindruck lügen: Ihre Lippen bebten vor Aufregung, ihre Augen waren weit geöffnet. Sie hatte Angst. Angst, daß man sie mit mir entdecken könnte.
    »Sie dürfen dich hier nicht sehen«, stieß ich leise hervor und fühlte mich plötzlich für sie verantwortlich wie für ein Kind. Ihr Liebe zu mir mochte sie geradewegs ins Unglück führen.
    »Ich will Euch helfen«, wiederholte sie. »Hier seid Ihr vorerst in Sicherheit. Die meisten Männer sind zum Marktplatz zurückgekehrt. Sie werden erst später wieder nach Euch suchen.«
    Ich überlegte einen Augenblick, dann entschied ich mich, ihr Angebot anzunehmen. »Wenn du mir wirklich helfen willst, dann bring mir meine Sachen aus der Herberge. Mein Bündel, den Bronzekopf, vor allem das Schwert. Führe mein Pferd hinauf zum Waldrand am Kopfelberg. Dort ist es in Sicherheit, und ich kann damit entkommen, wenn es nötig ist.«
    Sie stand jetzt nur noch einen halben Schritt von mir entfernt, und auf einmal begriff ich, daß sie nicht allein die anderen fürchtete. Ich war es, der ihr Angst machte. Ehe ich sie danach fragen konnte, sagte sie schon: »Sie behaupten, Ihr hättet den lahmen Walther getötet.«
    Ich senkte den Blick. »Und nun willst du wissen, ob sie die Wahrheit sagen.«
    »Nein«, erwiderte sie. »Ich kann nicht glauben, daß Ihr es wart. Als der Baumeister starb, da waren Eure Hände voller Blut, und trotzdem war ein anderer der Schuldige. Weshalb sollte es jetzt nicht genauso sein?«
    Ihre Folgerung war so eigentümlich, daß ich gar nicht erst widersprach. Sie wollte glauben, was sie sagte, und das allein zählte. Erneut kam sie mir zuvor und sagte: »Versteckt Euch hier bis zur Dunkelheit. Ein paar von ihnen streifen noch umher, doch sie werden die Suche bald aufgeben und sich zu den anderen gesellen. In der Dämmerung werde ich Euch Eure Sachen bringen, auf daß Ihr Hameln verlassen könnt.«
    »Ich danke dir«, sagte ich ehrlich berührt.
    »Werdet Ihr mich mit Euch nehmen?« fragte sie. Aus ihren Augen sprach eine wesenlose Traurigkeit, als hätte sie alle Hoffnung längst verloren. Sie kannte die Antwort.
    Ich streckte die Rechte aus und griff nach ihrer Hand. Meine schlammbedeckten Finger beschmutzten ihre weiße Haut. Plötzlich hatte ich das Gefühl, das gleiche schon einmal erlebt zu haben, doch meine Erinnerung galt Julia. Sie hatte sich genauso angefühlt. Der Gedanke an sie war schmerzlich, trotz der gemeinsamen Nacht. Was, wenn sie wirklich meine Schwester war? War dies die Strafe für unsere Sünde?
    Ich besann mich und streichelte Marias Hand. »Es geht nicht«, sagte ich, »und du weißt das.«
    Sie nickte, viel zu schnell, als daß es ihr damit hätte ernst sein können, und wandte sich ab. »Wartet hier auf mich. Ich komme zurück.«
    Sie wollte gehen, doch ich hielt sie zurück. »Maria!«
    »Ja, Herr?«
    »Willst du mir eine Frage beantworten?«
    »Sicher, Herr.«
    Das Gefühl der Nähe, das uns noch vor einem Herzschlag verbunden hatte, schwand dahin. Ich hätte nicht sagen können, weshalb. »Du weißt, was mit den Kindern geschah, nicht wahr?«
    Sie zögerte sehr lange, und sie mußte wissen, daß sie sich damit verriet. Trotzdem sagte sie: »Nein, ich weiß es nicht. Es war der Rattenfänger, sagen die Leute.«
    »Aber du kennst die Wahrheit«, entgegnete ich.
    »Die Wahrheit?« fragte sie. »Ich war nicht hier, als es geschah. Ich war oben im Berg, bei Vater Johannes. Ich bin oft bei ihm.«
    War das ein Lüge? Es fiel mir schwer, Maria zu durchschauen. »Selbst wenn du bei ihm warst – sicher hat man dir erzählt, was passierte. Herrgott«, fuhr ich auf und wußte zugleich, daß dies ein Fehler war, »natürlich hat man es dir erzählt. Hundertdreißig Kinder sind verschwunden, davon wird man noch in Jahren sprechen! Wie kann es da sein, daß man nur wenige Monde später nichts mehr darüber erfahren kann? Aus Angst?«
    »Nein, Herr«, erwiderte Maria. »Das hat nichts mit Angst zu tun. Nicht das geringste. Aber vielleicht werdet Ihr das nie verstehen.«
    »Was muß ich tun, um die Wahrheit zu erfahren? Menschen bedrohen? Menschen foltern? Muß ich dich foltern, Maria?«
    Sie lächelte schwach. »Ihr wißt, daß Ihr trotzdem nichts erfahren werdet. Das Schweigen ist die Waffe der armen Leute, mein Ritter. Es ist ihre einzige.«
    »Dann hilf mir, es aus eigener Kraft herauszufinden.«
    Sie nickte langsam. »Vielleicht werde ich das, mein Ritter. Vielleicht. Wartet bis heute

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