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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gottes Zorn toben, wenn die Menschen seinen Sohn ans Kreuz nagelten. Ganz unten, in den unteren drei Spielebenen, sollten aufgemalte Flammen, riesige Kochtöpfe und allerlei Folterinstrumente die Hölle verdeutlichen. Ich erinnerte mich nicht an eine entsprechende Erwähnung im Evangelium; zweifellos ging man hier über den Bericht der Bibel hinaus und bezog auch die Horden des Leibhaftigen ins Spiel mit ein – alles, um das Spektakel noch prächtiger, noch gottgefälliger zu gestalten. Gunthar von Wetterau sparte nicht an Aufwand, um sein Seelenheil zu sichern.
    Rund zwei Dutzend Tagelöhner sägten, hämmerten und malten an der Bühne, schufen neue Wolkenformationen und Höllenfeuer, trugen das Buschwerk rund um den Richtplatz mal hier, mal dort hin. Einige hingen in verknoteten Seilen, an denen man sie über Winden auf und ab lassen konnte, so daß sie auch die schwer zugänglichen Stellen des Bühnengerüsts erreichen konnten. Andere kletterten mühelos über die höchsten Balken, die den künstlichen Himmeln nach oben hin abschlossen, besserten aus, schmückten und malten.
    Ich muß gestehen, ich war beeindruckt. Falls dies alles von Wetteraus Verdienst war, hatte er sich seine Ehrung durch den Abgesandten des Papstes redlich verdient. Er hatte ein wahres Wunderwerk zum Lob unseres Herrn erschaffen. So hingerissen war ich von der aufwendigen Gestaltung der Bühne, daß ich sogar für einen Moment meine Grübelei über die Geschehnisse der Nacht verdrängte und mich ganz meiner Bewunderung für dieses Meisterwerk hingab. Keine Frage, daß die Bürger Hamelns auch Herzog Heinrich und den Bischof mit ihrem Spiel begeistern würden.
    Ich überquerte den Marktplatz und vermißte schmerzlich Dantes warmen Mantel, denn der Regen wurde von eisigem Windhauch vorangetrieben, drang durch jede Öffnung der Kleidung und ließ mich zittern. Ich fragte mich, ob das Wetter in Hameln überhaupt jemals umschlagen würde.
    In einigem Abstand von der Bühne standen zwei Männer und beobachteten das Treiben der Tagelöhner mit prüfenden Blicken. Es mußte sich um die Nachfolger des toten Baumeisters handeln, gewiß seine Gesellen, die nun die Fertigstellung überwachten. Der Ruhm ihres Meisters würde zweifellos auch ihnen zum Vorteil gereichen. Später würde man ihre Namen mit seinem in Gleichklang bringen, wenn man über das ehrwürdige Mysterienspiel von Hameln sprach.
    »Jetzt die Wappen!« rief einer der beiden an der Bühne hinauf.
    Ich folgte seinem Blick und bemerkte zwei Tagelöhner, die am oberen Rand des Gerüsts über die Balken liefen. Einer trug das Wappen der Herzogs in der Hand, der andere das des Bischofs von Minden. Jetzt machten sie sich daran, die mannsgroßen Stoffbahnen weithin sichtbar am Holz zu befestigten.
    »Nein, nein!« schrie der zweite Baumeister aufgebracht. »Andersherum, ihr Schwachköpfe. Den Bischof auf die linke, den Herzog auf die rechte Seite. Das bischöfliche Wappen muß als erstes ins Auge fallen.«
    Ich stand nah genug bei den beiden, um zu hören, wie der andere leise sagte: »Aber ist rechts nicht die Seite, die schwerer wiegt? Muß Gottes Statthalter nicht zur Rechten seines Throns stehen statt zur Linken?«
    Der zweite, ein baumlanger Jüngling mit strohblondem Haar, schüttelte den Kopf und seufzte. »Begreifst du denn nicht? Was von hier aus wie rechts erscheint, ist von Gottes Thron aus links. Umgekehrt, verstehst du?«
    »Sprich nicht zu mir wie mit einem Kind«, erregte sich sogleich der andere. Er war ein wenig älter und mindestens einen Kopf kleiner. Sein braunes Haar lichtete sich bereits.
    »Du bist ein Dummkopf, Aribo, ein wahrer Dummkopf.«
    »Schweig!« Es sah aus, als wollte er den Jüngeren am Hals packen, doch im letzten Augenblick ließ er die Hände wieder sinken.
    Der Blonde grinste. »Nichts werde ich tun. Der Meister wußte schon, wen von uns beiden er vorzog.«
    »Und wer wäre das?« rief Aribo drohend.
    »Jenen, der rechts von links und links von rechts unterscheiden kann.« Offenbar wollte der Geselle es nur zu gern auf einen Streit ankommen lassen.
    Doch Aribo verkniff sich die Handgreiflichkeiten – vielleicht, weil er wußte, daß der andere recht hatte.
    »Hör auf, Ludwig. Die Tagelöhner können uns hören.«
    Der Jüngere zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder zur Bühne. Oben hatten die Tagelöhner begonnen, die Wappen ans Holz zu nageln.
    Aribo rief: »Herrgott, das Wappen des Bischofs hängt zu niedrig. Seid ihr von allen guten Geistern

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