Der Rattenzauber
ist.«
Maria öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann blieb sie stumm. Ihre Augen hingen an den meinen. Sie schrien um Vergebung für die Wahrheit. Ich zwang mich zu einem Lächeln, nickte und sah ihr nach, als ein Wächter sie aus der Zelle schob. Der zweite wollte stehenbleiben, doch der Probst gab ihm einen Wink: »Laß uns allein!«
Sie gingen, Maria voran. Der Probst und ich blieben zurück.
»Ihr wart den ganzen Nachmittag über allein, Ritter«, stellte er fest, obwohl es längst nicht mehr nötig war. Die Kerkertür schlug zu und wurde von außen verriegelt. Von Wetterau stand mir gegenüber und starrte mich an. »Ihr hattet genug Zeit, die Kinder zu töten und in Euer Versteck zurückzukehren.«
»Ihr sagtet, Ihr fürchtet mich.« Ich versuchte noch einmal zu lächeln, doch es mißlang. »Wie groß kann Eure Furcht sein, wenn Ihr ohne Wachen allein mit mir bleibt?«
»Wollt Ihr mir drohen?« fragte er überrascht.
»Nein, und das wißt Ihr. Aber ich zweifle an Euren Worten, Herr von Wetterau. Ihr wußtet genau, was geschehen würde, hätte die Nachricht, daß Eure Schwester und ihre Leute die Kinder töteten, den Hof erreicht. Denn das allein war der Grund, weshalb Ihr angeblich so aufrichtig zu mir wart: Ihr habt gehofft, der Herzog würde die Wodan-Jünger bis auf den letzten niedermachen. Ist es nicht so?«
Die Augenbrauen des Probst rückten zusammen, seine Stirn legte sich in Falten. Die helle, unbewegliche Narbe, die seine Züge teilte, wurde dadurch noch auffälliger. »Weshalb hätte das mein Wunsch sein sollen? Liutbirg ist meine Schwester, trotz allem.«
»Sie befleckt Euer Ansehen«, widersprach ich. »Sie bringt Euren Namen in Verruf. Ein Heiliger, dessen Schwester heidnischen Göttern opfert – lieber Himmel! Wußte der Papst davon, als er Euch seinen Segen versprach?«
Von Wetterau wurde unruhig, behielt sich aber in der Gewalt. »Wenn es mein Wunsch gewesen wäre, sie zu töten, hätte ich es selbst tun können. Das Hamelner Stift hat genug Krieger, um es mit ein paar Heiden aufzunehmen.«
Ich lächelte böse. »Das wäre dann fast ein Kreuzzug gewesen, nicht wahr? Die Helden des Herrn gegen die Ungläubigen. Mich wundert, daß Ihr nicht früher auf diesen Einfall gekommen seid.«
»Es wird Euch nicht helfen, mich zu beleidigen, Ritter. Ihr glaubt, daß –«
Ich fiel ihm barsch ins Wort: »Nein, von Wetterau. Ich weiß, daß Ihr Liutbirg und ihre Anhänger nicht angreifen konntet. Denn es verstößt gegen die Gesetze des Himmels, die eigene Schwester in die Verdammnis zu führen, sie vielleicht gar mit eigener Hand zu töten. Ihr befandet Euch in der Zwickmühle. Liutbirg mußte verschwinden, doch Ihr selbst durftet Euch dieser Aufgabe nicht annehmen. Da kam Euch meine Ankunft in Hameln gerade recht. Und das Verschwinden der Kinder noch dazu.«
»Was wagt Ihr!« rief von Wetterau aufgebracht. »Eure Unterstellungen sind niederträchtig. Ihr glaubt, von Eurer eigenen Schuld abzulenken, in dem Ihr solche Ungeheuerlichkeiten gegen mich erfindet. Versteht Ihr nun, weshalb ich Euch nicht dem Herzog vorführen kann? Wer weiß, welche Lügen noch in Eurem kranken Hirn brüten!«
Ich drehte mich um und ging zum Fenster, blickte hinaus auf die Mysterienbühne, an der die letzten Arbeiten vollendet wurden. Die Wappen des Bischofs und des Herzogs flatterten im Wind.
»Ihr könnt natürlich nicht zulassen, daß der Herzog mich anhört. Ich weiß zuviel. Ich weiß, wo Ihr die Kinder verscharrt habt und –«
»Die Kinder wurden nicht verscharrt«, unterbrach mich der Probst. Seine Stimme war gefährlich leise, ihr Ton eine merkliche Drohung. »Wir erbauten eine Kapelle auf ihren Gräbern. Wer will, kann dort für ihr Seelenheil beten.«
»Ja, natürlich.« Ich wußte, daß von Wetterau mich früher oder später beseitigen würde. Es war gleichgültig, was ich jetzt noch sagte; meine Lage konnte es schwerlich verschlimmern. »Ich bin nicht sicher, was genau den Kinder zustieß. Aber ich glaube, daß es mit dem Mysterium zu tun hat, mit Eurem Spiel, mit dem Ihr Euch Euer Seelenheil erkauft.«
Der Probst lachte auf. Es klang hart und bösartig.
»Als nächstes werdet Ihr behaupten, ich selbst hätte die Kinder getötet – so, wie Ihr es mit den übrigen getan habt.«
Ich schüttelte den Kopf. »O nein, verehrter Probst. Ihr habt kein Messer geschwungen und hundertdreißig Kindern die Kehlen durchgeschnitten. Etwas anderes geschah. Die Leichen sind verbrannt. Starben die Kinder im
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