Der rauchblaue Fluss (German Edition)
in der Hoffnung, eure Großmutter wiederzufinden. Doch er wusste, dass es nicht leicht sein würde, auf einer so kleinen Insel seine Identität zu verbergen, und dass man ihn, falls er erkannt wurde, mit Sicherheit ins Gefängnis werfen oder gar an den Galgen bringen würde. Meine Lage war ganz ähnlich: Meine Frau, Malati, und mein Sohn, Raj Rattan, waren in Kalkutta, und ich sehnte mich danach, dorthin zurückzukehren, vor allem, um sie mit mir nehmen zu können. Doch eine so baldige Rückkehr konnte gefährlich werden, weil man mich höchstwahrscheinlich erkennen würde.
Wir sprachen darüber, dachten darüber nach, und weil Mergui näher war, entschied sich euer Großvater schließlich, sich Jodu und Serang Ali anzuschließen. Mir wurde die Entscheidung von Ah Fatt abgenommen: Er und ich hatten viel zusammen durchgemacht und waren enge Freunde geworden. Er drängte mich, mit ihm nach Singapur und Malakka zu fahren, und das tat ich dann auch.
Und so trennten wir uns: Serang Ali besorgte den drei anderen eine Überfahrt nach Mergui auf einer malaiischen Prau. Ah Fatt und ich warteten, bis ein Handelsschoner der Bugis auf dem Weg nach Singapur anlegte.«
»Und dann? Was war dann? Was war dann?«
Weil ihr Nil leidtat, hastete Diti herbei und verscheuchte ihre Brut: »Agobay! Ihr mit eurer Fragerei – wollt ihr ihn fatigé machen, kwa? Er ist für ein konzé hier, na, und nicht, um mit euch zu palavern. Hört auf mit eurem bak-bak und katakata – geht und esst eure parathas.«
Doch als die Kinder weg waren, wurde klar, dass Diti einen anderen Zweck verfolgte. Sie reichte Nil einen Klumpen Holzkohle und sagte: »Jetzt bist du an der Reihe.«
»Womit?«, fragte Nil.
»Mit dem Verzieren unserer Wände. Du bist einer unserer Schiffskameraden von damals, und das ist unser Erinnerungstempel. Jeder, der irgendwann hier war, hat seinen Beitrag dazu geleistet – Malum Zikri, Paulette, Jodu. Jetzt bist du an der Reihe.«
Nil wusste nicht, wie er das hätte ablehnen können. »Na gut«, sagte er. »Ich versuch’s.«
Er war nie besonders gut im Zeichnen gewesen, aber er nahm die Holzkohle und machte sich zögernd ans Werk. Eines nach dem anderen kamen die Kinder zurück, drängten sich um ihn, riefen ihm aufmunternd zu und stellten einander Fragen.
»… er ist Zeichner, oder?«
»… ja, schau doch, er hat einen Bart; und auch einen Turban … «
»… und ist das da hinten nicht ein Schiff? Mit drei Masten … «
Diti verlieh der allgemeinen Neugier Ausdruck: »Wer ist das?«
»Seth Bahramji.«
»Und wer soll das sein?«
»Seth Bahramji Naurozji Modi – Ah Fatts Vater.«
»Und das da, hinter ihm. Was ist das?«
»Sein Schiff, die Anahita .«
Später gab es große Diskussionen darüber, ob die Anahita in denselben Sturm geraten war wie die Ibis . Die damals vorliegenden Informationen erlaubten keine stichhaltigen Schlussfolgerungen. Sicher war, dass die Anahita weniger als hundert Meilen westlich der Insel Groß Nikobar unterwegs zur Zehn-Grad-Straße gewesen war, als auch sie in schweres Wetter geriet. Sie war sechzehn Tage zuvor in Bombay ausgelaufen und wollte über Singapur nach Kanton.
Bis dahin war die Reise ohne Zwischenfälle verlaufen, und die Anahita war mit Vollzeug durch die wenigen Sturmböen gesegelt, die ihren Weg kreuzten. Der schnittige Dreimaster war eines der wenigen in Bombay gebauten Schiffe, die regelmäßig auch die schnellsten englischen und amerikanischen Opiumschiffe abhängten, sogar so legendäre Schiffe wie die Red Rover und die Seawitch . Auch auf dieser Reise hatte sie sehr gute Zeiten erzielt, und alles ließ einen abermaligen Rekord erwarten. Doch das Wetter im Golf von Bengalen war im September notorisch unberechenbar, und als dunkle Wolken aufzogen, zögerte der Kapitän, ein wortkarger Neuseeländer, keinen Augenblick, die Segel zu mindern. Als der Sturm Orkanstärke erreichte, ließ er seinem Dienstherrn Seth Bahramji eine Nachricht überbringen: Er empfehle ihm, sich in seine Privatsuite zurückzuziehen und bis auf Weiteres dortzubleiben.
Dort war Bahram Stunden später noch immer, als sein Zahlmeister Vico hereinstürmte und ihm mitteilte, dass die Opiumladung sich losgerissen habe.
»Was? Wie ist das möglich, Vico?«
»Es ist eben passiert, Patrão; wir müssen etwas tun, jaldi.«
Vico voran, Bahram dicht hinterdrein, hasteten die beiden nach unten und mussten achtgeben, um nicht auf dem glitschigen Niedergang auszurutschen. Die Luke zum Laderaum war
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