Der Rebell - Schattengrenzen #2
Reden zu bringen?
Für einen Trick wirkte sie zu angespannt.
Sein Herz hämmerte. Er spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. Die Luft entwich seinen Lungen. Etwas brannte in seinen Augen … Tränen.
»Soll … soll das ein Witz sein?«
Es klang schwach. Die Kraft zu reden fehlte. Die Welt kippte unter ihm fort. Obwohl er saß, spürte er, wie ihn ein Sog ergriff und nach unten riss.
Sie schwieg.
Mühsam sträubte er sich gegen das erstickende Gefühl in seiner Kehle. Er rang nach Atem.
Langsam löste sie sich aus ihrer Starre. »Oliver, mit solchen Sachen scherze ich nicht. So gut solltest du mich kennen.«
Er schloss die Augen und nickte matt. Tränen rannen über seine Wangen. Wenn er jetzt versuchte, zu reden, würden nur unartikulierte Laute herauskommen.
Mitleid flackerte in ihrem Blick. Sie zog ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Hosentasche und schob es zu ihm, bis die körperwarme Plastikhülle seine Fingerspitzen berührte.
»Das war das Schwerste, was ich je sagen musste.«
Ihre Stimme bebte.
Das Gefühl war unerträglich. Instinktiv zuckte er zurück.
Widerlich … Der Ekel vor Nähe, Mitleid und Berührung drehte ihm den Magen um. Er fuhr keuchend auf. In seinem Inneren brannte ein Höllenfeuer. Schweiß trat auf seine Stirn. Zugleich wankte der Boden. Mit beiden Händen klammerte er sich an den Tisch.
»Meine Brüder …«
Magensäure schoss in seinen Mund. Er wirbelte herum und stürzte ins Bad.
Das Gefühl der hilflosen Bodenlosigkeit hielt sich. Niemand kam und dementierte diese Worte. Getrennt. Er verlor nun auch noch Michael und Christian. Es gab kein Ziel mehr. Wussten die beiden davon?
Sicher nicht. Sie freuten sich wahnsinnig, wieder zusammen zu sein. Die Vorstellung, sie wieder in die Arme zu nehmen, jeden Tag ihre Scherze und Spiele zu beobachten, bei ihnen zu sein und sie rund um die Uhr um sich zu haben, brach in sich zusammen.
Er liebte Chris und Micha. Sie waren seine Familie, die er seit dem Tag ihrer Geburt beschützte und umsorgte. Chris mit all seinen Macken und seiner zickigen Art konnte in hundert Jahren nicht so sehr nerven, dass Oliver auch nur einen Tag länger ohne ihn sein wollte. Und Michael, sein Liebling neben Elli, der immer ruhig blieb und schon jetzt so erwachsen wirkte … Er ballte die Fäuste und schlug auf sein Kissen ein.
Was für ein herzloses Monster verbarg sich hinter diesem alten Mann? Eine Woge unglaublicher Wut überschwemmte ihn. Wäre doch nur Walter hier. Er würde ihm … Mit einem Hieb traf er die Wand. Der Schmerz – wo blieb der Schmerz?
Seine Knöchel wandelten sich von weiß zu rot. An zwei Stellen riss die Haut. Blut quoll langsam aus den kleinen Wunden. Für einen Moment verlor er den Faden zur Realität. Die Welt um ihn sackte ins Nichts. Nur das dunkle Rot …
Mit einer einzigen raschen Bewegung rammte er erneut seine Faust in die Wand. Wieder nichts – kein Schmerz, nur ein paar kleine, orangerote Flecken, wo seine Knöchel die weiße Tapete trafen. Warum?
Erneut schlug er zu, noch einmal und noch einmal und …
»Oliver!«
Matthias’ Hand schloss sich um seinen Arm.
Erschrocken sah er hoch.
Der junge Kommissar starrte ihn entsetzt an. »Was – zum Teufel – machst du?«
Das ernste Gesicht des Beamten verschwamm. Oliver blinzelte die Tränen fort. Aber es wurde nicht weniger. Seine Sicht verschleierte sich mit jedem Moment mehr.
»Daniel, hilf mir mal.«
Daniel? Oliver schluchzte. Erneut versuchte er, die Tränen fortzublinzeln.
Der Geruch nach Leder und Zigaretten hüllte ihn ein, als Daniels Arme sich fest um ihn schlossen. Die Wärme des jüngsten Kommissars der SoKo drang durch Olivers T-Shirt.
Weg, er wollte nicht berührt werden.
Alle Muskeln spannten sich in seinem Körper. Er gab Gegendruck, bog und wand sich.
Daniel packte ihn unsanft an beiden Handgelenken und zwang sie übereinander. »Olli beruhige dich. Komm wieder runter.«
Die Worte kamen an, berührten ihn aber nicht.
Erneut wand er sich, drehte in Daniels knochigen Fingern beide Handgelenke, kam aber nicht heraus.
Im Gegenteil, Daniel drückte ihm beide Daumen in die Pulsadern. Ein erstickend dumpfer Druck lähmte seine Hände und Arme.
Oliver gab auf. Noch immer war er endlos weit von seiner alten Konstitution entfernt.
Warum war er nur so ein Versager?
In Matthias’ Mimik lag noch immer Schrecken. Allerdings spiegelte sich in seinen Augen kein Mitleid, sondern ein Hauch Angst. Wovor nur? War die Frage überhaupt
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