Der Regen in deinem Zimmer - Roman
die wildesten Gedanken durch den Kopf und ich sehe mich bereits in irgendeiner Grube liegen. Im Geiste lasse ich sämtliche durch die Medien gegangene Verbrechen der letzten Zeit Revue passieren, deren Opfer allzu gutgläubige Mädchen waren.
21. Januar
Ohne weitere Überraschungen und Drohungen ging die Woche dahin; auch ohne Gabriele. Seit vier Tagen habe ich ihn nicht gesehen. Er fehlt mir wie noch nie, und ich will ihn sehen, aber nicht so, nicht mit diesem Geheimnis zwischen uns, nicht ohne alles klären zu können.
In der Klasse macht sich langsam Abi-Stimmung breit und es wird nur noch darüber geredet, was man danach macht, wo man hin will oder wie man die Abschlussarbeit angeht. Viele haben bereits angefangen, für die Zulassung zu irgendeinem Studium zu büffeln, doch ich habe noch immer nichts entschieden. Mir kommt es vor, als wäre mein Leben stehengeblieben und wollte nicht weitergehen.
Während ich alle meine Sachen auf dem Tisch ausbreite, überkommt mich plötzlich das entsetzliche Gefühl, dass ich Gabriele nie mehr wiedersehen werde, dass ich all meine Chancen verspielt und etwas Bedeutendes verloren habe. Keiner der Lehrer fragt nach ihm, nicht einmal Greci, was mich noch mehr beunruhigt. Es ist, als wäre er tatsächlich verschwunden. Ich denke an unsere gemeinsamen Momente zurück, und sie erscheinen mir allesamt wunderschön. Auf dem Nachhauseweg fahre ich bei Petrit vorbei, halte aber nicht an, sondern schlage den Weg zum Meer ein.
24. Januar
Heute dürfen wir früher gehen, weil unsere Mathelehrerin krank ist. Es ist ein schöner, sonniger Tag, und ich fahre ans Meer. Am Strand sind ein paar Spaziergänger, also beschließe ich, auch ein paar Schritte zu machen. Ich stelle den Roller da ab, wo ich ihn geparkt habe, als ich mit Gabriele hier war, und gehe zum Strand hinunter.
Es ist angenehm, wenngleich die Luft noch ein bisschen frisch ist. Doch der Himmel ist blau. Blau wie an jenem Tag.
Abschied
Als du letztes Jahr zur Routineuntersuchung im Krankenhaus warst, ging es dir plötzlich schlecht und sie haben dich dortbehalten. Der zuständige Arzt meinte, er sei überzeugt, du würdest es nicht schaffen, die Situation sei äußerst kritisch. Zwei Tage vergingen, und wie durch ein Wunder – so der Arzt – erholtest du dich wieder.
Als ich dich sonntags besuchen kam, saßt du draußen auf einer Bank im Krankenhausgarten. Du trugst einen hellblauen Morgenmantel, und dein von der Krankheit gezeichnetes Gesicht sah weniger abgehärmt aus als sonst. Als ich kam, wolltest du ein paar Schritte mit mir gehen. Es war Frühling, die Luft war lau, und der Garten stand voller Blumen. Schweigend spazierten wir nebeneinanderher, als die geballte Angst, dich zu verlieren, jäh über mich hereinbrach und ich dich wie ein schüchterner Verehrer, der sich ein Herz gefasst hat, plötzlich in die Arme schloss. Ich weiß nicht, wie lange wir so dastanden, neben dem Beet, in der Sonne jenes Aprilnachmittags.
Als die Besuchszeit um war, wolltest du mich zum Ausgang bringen, und auf dem Weg die Zufahrt hinunter drehte ich mich um und du standest noch immer da und sahst mir nach. Als du die Hand hobst, um mir nachzuwinken, musste ich mich beherrschen, nicht zu dir zurückzurennen. Ich habe zurückgewinkt und bin wie ein Roboter weitergegangen, während die Tränen mir übers Gesicht strömten.
Es ist, als hätten wir an jenem Tag voneinander Abschied genommen, einfach so, ganz für uns, allen Blicken entzogen. Ein Liebesabschied in der Leichtigkeit des Frühlings.
Noch immer 24. Januar
Ich wandere vor mich hin, den Blick aufs Meer gerichtet. Da höre ich jemanden von hinten näher kommen, und mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich fahre herum. Vor mir steht Gabriele, eine erloschene Zigarette zwischen den Fingern, die Winterjacke über der Schulter. Meine Angst verfliegt. Ich lasse die Luft aus den Lungen und grüße ihn mit dem letzten Atemhauch.
»So sieht man sich wieder. Ich dachte schon, du wärst für immer verschwunden.« Ich lächle.
»Ich hatte zu tun. Nicht der Rede wert«, sagt er, die Augen im Sonnenlicht zusammengekniffen.
»Bist du gerade gekommen?« Fragend blicke ich mich nach einer möglichen Begleitung um.
»Ja, ich bin ein bisschen herumgefahren und habe deinen Roller gesehen. Ich hab dir ’ne SMS geschickt, aber offenbar bist du heute auch krank«, sagt er mit einem schmalen Lächeln.
Ich greife in meine Jackentaschen, doch das Handy ist nicht da. Ich werfe den Rucksack zu Boden
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