Der Regler
Sensibilität, soweit vorhanden, schwieg man am besten. Nicht einmal gegenüber seinem langjährigen Assistenten Rainer Gritz hatte er diese Bilder jemals erwähnt. Doch nicht etwa aus Scham. Gritz, der lange, dünne Gritz, war der beste Polizist, den er kannte, der genaueste, der hartnäckigste. Zu keinem hatte er so viel Vertrauen wie zu ihm. Wenn er ihm davon erzählt hätte, da war sich Maler sicher, dann hätte Gritz alles in Erfahrung gebracht, was man über solche Phänomene in Erfahrung hätte bringen können. Gritz hätte ihn überflutet mit Wissen. Und genau das wollte Maler nicht. Er wollte keine Informationen. Er wollte die Bilder vergessen, wann immer es möglich war.
Doch dann war die Geschichte mit seinem Herzen passiert, und so kam es, dass Kommissar Maler während eines wochenlangen Aufenthalts in der Reha-Klinik am Lusterbacher See öfters einer alten Dame gegenüber gesessen hatte, der leitenden Psychologin des Hauses. Sie war deutlich über achtzig Jahre alt, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, nach einer möglichen Altersgrenze zu fragen – sie war die Inhaberin der Klinik.
Ihr Spezialgebiet waren Träume. Sie fragte immer als Erstes, was Maler geträumt habe. Und ihr erzählte er es, die Sache mit seinen Tagträumen. Die Frau hatte weiße Haare und eine angenehme, ruhige Stimme. Und genauso angenehm und ruhig reagierte sie auch auf seine Erzählungen. Sie berichtete von ihren eigenen Träumen in den Nächten, davon, dass sie jahrzehntelang Mordphantasien durchlebt habe. »Und ich sage Ihnen, Herr Kommissar, mir ging es während des Träumens gut. Ich bin nur manchmal am Morgen über mich erschrocken.« Sie unterhielten sich ausführlich über das Wesen des Bösen und darüber, warum kein Mensch vor ihm sicher war. Maler behielt aus diesen Gesprächen, dass er seine Bilderattacken als eine Art Fieberthermometer begreifen musste. Je häufiger diese Bilder kamen, desto dringlicher signalisierte ihm seine Seele, dass sie überfordert war.
Diesmal vergingen nur drei Stunden nach dem Verlassen der Gerichtsmedizin, bis die Bilder kamen. Das erste sah Maler an der Ampel: Der Fahrer des neben ihm haltenden Taxis hatte plötzlich keinen Kopf mehr. Das zweite Bild blitzte am Zeitungskiosk auf, noch kürzer als sonst – der ganze Kiosk war in Blut getaucht.
Maler machte einen Spaziergang. Er verließ das Polizeipräsidium gleich hinter dem Dom, ging zum Odeonsplatz, durch den Hofgarten hindurch Richtung Sankt-Anna-Platz, seine übliche Route, wenn er ein bisschen zur Ruhe kommen wollte. Er hoffte, dass dieser Tretjak nicht gerade jetzt aus der Wohnung kommen und ihm über den Weg laufen würde. Am Morgen hatte ihn Tretjak angerufen. Er hatte sich dafür entschuldigt, gestern nicht die Wahrheit gesagt zu haben: Er kannte diesen Kerkhoff sehr wohl, und sogar recht gut.
Maler hatte noch die schwäbische Stimme der Gerichtsmedizinerin im Ohr. Sie hatte gesagt, als Kerkhoff die Augen entfernt worden seien, sei er bereits tot gewesen. Der Täter habe sein Opfer nicht gefoltert. Man müsse wohl davon ausgehen, dass er mit der Tat eine Botschaft loswerden wollte.
Vierter Tag
14. Mai
München, Sankt-Anna-Platz, 14 Uhr
Sie kam mit dem Fahrrad. Tretjak hatte erwartet, sie auf der Rolltreppe aus der U-Bahn-Station auftauchen zu sehen. Er war überrascht, als er ihre Stimme hinter sich hörte.
»Sieht irgendwie nicht sehr anstrengend aus, Ihr Job, Herr Tretjak«, sagte sie.
Es war früher Nachmittag, die Sonne schien, Tretjak saß an einem Tisch vor dem Café am Sankt-Anna-Platz und hatte einen Espresso vor sich. Fiona Neustadt schob ihr Fahrrad neben den Tisch, stellte es in den Ständer und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Die Uhr der großen Kirche schlug zwei Mal. Dann schlug auch die Uhr der kleinen Kirche zwei Mal. Die Steuerprüferin war pünktlich auf die Minute. Sie trug ein knielanges weißes Kleid mit schwarzen Punkten im Sixties-Stil, darüber eine Jeansjacke. Ihre Füße steckten in dunkelblauen Segeltuchschuhen, die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Im Finanzamt scheint es schon richtig Sommer zu sein«, sagte er.
Sie lachte. »Und bei den Unternehmensberatern nicht? Oder …«, sie zog etwas spöttisch die Augenbrauen hoch, »besser gesagt bei den ›persönlichen Unternehmens- und Wirtschaftsberatern‹. Sie könnten mich zu einem Kaffee einladen. Cappuccino bitte.« Sie hatte eine dieser hässlichen Umhängetaschen aus robustem Kunststoff dabei und
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