Der Regler
17 Uhr 55 zu den Akten nehmen.
»Ich möchte für Herrn Tretjak etwas abgeben«, sagte eine Stimme aus der Sprechanlage. Ein paar Sekunden später stand der zugehörige Mann vor der Eingangstür. Er trug die orange Jacke eines Kurierdienstes und hielt einen riesigen Blumenstrauß in den Händen, verpackt in durchsichtiger Folie. Es war ein auffälliger Strauß, ausschließlich Rosen, aber in ganz verschiedenen Farben. »Den soll ich Herrn Tretjak persönlich in die Hand geben«, sagte der Mann. »Und diese Nachricht.«
Tretjak nahm die Blumen und ein kleines weißes Kuvert entgegen. Nachdenklich schloss er die Tür.
»Oh«, sagte Fiona Neustadt, als er mit dem Strauß in die Küche zurückkam, »da haben Sie bei irgendwem einen guten Eindruck hinterlassen. Und wie es aussieht, war es kein Mann.«
Tretjak sah, dass sie ihre Umhängetasche packte und Anstalten machte, den Termin zu beenden. Er stellte die Blumen in die Spüle, schloss den Abfluss und drehte den Wasserhahn auf. Stehend öffnete er das Kuvert. Es enthielt eine Karte mit einem einzigen Satz, geschrieben mit Maschine:
Leichentücher sind weiß.
Tretjak beobachtete das Wasser, das in die Spüle lief. Als der Spiegel den oberen Rand erreicht hatte, drehte er den Wasserhahn mechanisch wieder zu. Die Kirchenglocken schlugen sechs.
Erst jetzt bemerkte er Fiona Neustadt, die etwas verlegen in der Tür stand, die Tasche umgehängt, die Jacke zugeknöpft, offensichtlich in der Annahme, sie sei unfreiwillig Zeugin eines intimen Momentes geworden. »Ich geh dann mal lieber«, sagte sie. »Wir können ja wegen des nächsten Termins telefonieren.«
Tretjak nickte stumm. Er würde den Kommissar informieren müssen.
Leichentücher sind weiß
… Was zum Teufel lief hier ab?
»Ich habe Ihnen noch ein paar Fragen aufgeschrieben … Sie liegen auf dem Tisch«, sagte Fiona Neustadt, wandte sich um, trat in die Diele. Er hörte ihre Schritte Richtung Wohnungstür.
»Warten Sie«, sagte er und ging ihr nach.
Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm, die Hand schon an der Türklinke.
»Haben Sie heute Abend schon etwas vor? Sind Sie verabredet?«, fragte Tretjak.
Sie blickte ihn verwundert an. Der Blick einer Finanzbeamtin, die sich fragte, ob hier jemand gerade dabei war, eine Grenze zu überschreiten.
»Verzeihung«, sagte Tretjak. »Ich wollte nicht … Ich wollte Ihnen nur etwas zeigen.«
Jetzt lächelte sie. »Was wollten Sie mir denn zeigen?«
»Vergessen Sie’s«, sagte Tretjak.
»Ich bin mit einer Freundin um sieben zum Badminton verabredet«, sagte sie. »Danach habe ich Zeit.«
Tretjak zögerte noch einen Augenblick, dann lächelte auch er. »Sie können sich richtig lange verausgaben«, sagte er. »Was ich Ihnen zeigen will, sieht man nur, wenn es stockdunkel ist.«
Bozen, Italien, 17 Uhr
Es war ein fast heißer Spätfrühlingstag, als Maria um kurz nach fünf ihre kleine Wohnung verließ, direkt über der Eisdiele am Waltherplatz. Sie hatte die blaue Strickjacke angezogen und drüber die dunkelblaue Schürze. Etwas zu warm, aber das störte sie nicht. Zum Hotel waren es zu Fuß genau acht Minuten.
Die kleine Maria. Irgendwann musste sie einmal hübsch gewesen sein. Doch für eine Frau von 83 Jahren war das längst keine Kategorie mehr, vor allem nicht für eine Frau wie die kleine, alte Maria, von der nie irgendwelche Männergeschichten bekannt geworden waren. Nein, sagte sie immer, dazu hatte ich nie Zeit. Sie sei eben mit dem Hotel verheiratet gewesen, all die Jahrzehnte. Mit dem Hotel
Zum blauen Mondschein
in Bozen, einem der besten der Stadt. Das Hotel hatte ein paarmal den Besitzer gewechselt, der Standard war der gleiche geblieben. Im wunderschönen Garten mit den vielen Bäumen wurde gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen. Von den Zimmern konnte man hinunterschauen in den Garten, vom Garten hochsehen zu den Zimmerfenstern, die von grünen Fensterläden eingerahmt wurden.
Maria war seit fast siebzig Jahren Zimmermädchen im
Blauen Mondschein
und hatte die verschiedenen Besitzer kommen und gehen sehen. Als einmal bekannt geworden war, dass ein neuer Inhaber mit dem Gedanken spiele, Maria in die Rente zu schicken, hatte der Bürgermeister von Bozen einen Brief geschrieben. Bozen sei eine komplizierte Stadt, ein bisschen Österreich, ein bisschen Italien, das Zusammenleben hier sei eine fragile Angelegenheit. Man sei stolz auf den
Blauen Mondschein
, und zwar auch deshalb, weil das Hotel immer großen Wert auf die
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