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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
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Quittungskopien waren die Namen verdeckt. An diesem Punkt hatte Tretjak mehr Diskussion mit der Steuerprüferin erwartet. Er hätte eine sorgfältig vorbereitete juristische Argumentation zu bieten gehabt, die seine Klienten schützte. Aber Fiona Neustadt bemerkte nur beiläufig dazu: »Dann wollen wir das mal wie eine Art Arztgeheimnis betrachten.« Sie verglich nur die Zahlen, überprüfte, ob die eingetragenen Beträge mit denen auf den Quittungen übereinstimmten. Sie hatte zu diesem Zweck eine Brille mit schwarzem Gestell aufgesetzt, über deren Rand hinweg sie ihn gelegentlich musterte. Zeitweise saßen sie sich minutenlang schweigend gegenüber, während die Spitze ihres Stiftes systematisch Zahlenreihe für Zahlenreihe abtastete. Einmal brühte Tretjak für beide Tee auf, zweimal holte er eine neue Wasserflasche aus dem Kühlschrank. Die beiden Stücke American Cheese Cake, die er unten im Café noch gekauft hatte, ließen sie unberührt auf der Arbeitsplatte stehen.
    Allmählich baute sich hier in seiner Küche ein Gefühl in ihm auf, das Tretjak überraschte: Er beneidete diese junge Frau. Ein richtiger Beruf, ein übersichtlicher Alltag mit einem Fahrrad und einer Umhängetasche, einer kleinen Wohnung, wie er vermutete. Und mit Wünschen, die man sich ums Handgelenk binden konnte.
    Tretjak hatte sein hervorragendes Gedächtnis immer als Geschenk gesehen, es hatte ihm immer genutzt. Heute, jetzt, bei dieser Arbeit, schien es ihm die Luft zu nehmen. Mit jedem Eintrag in seinen Büchern, über den sie sprachen, spulten sich in seinem Gehirn die Geschichten und Schicksale ab, die dazugehörten, und es marschierten die Menschen auf, entfalteten sich längst vergangene Situationen aufs Neue. Während die Finanzbeamtin drei Jahre seines Lebens ganz der buchhalterischen Perspektive unterwarf, saß er in seiner Küche, zurückgeworfen auf die Unordnung menschlicher Gefühle und Verhaltensweisen. Er fühlte sich plötzlich unwohl, spürte, dass sein Puls zu schnell ging, dass seine Hände feucht wurden. Kurz dachte er daran, den Termin abzubrechen. Später überlegte er gelegentlich, wie sich wohl alles entwickelt hätte, wenn er es getan hätte. Er entschuldigte sich und suchte das Badezimmer auf. Er nahm zwei Tavor und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.
    Als er zurück in die Küche kam, fragte Fiona Neustadt: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen blass aus.«
    »Alles in Ordnung«, antwortete er.
    Sie klappte das Kassenbuch zu, das vor ihr auf dem Tisch lag. »Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
    »Bitte.«
    Sie nahm ihre Brille ab, beugte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf den Tisch, das Gesicht in die Hände und sah Tretjak direkt an. »Ich kenne die Bücher von Unternehmensberatern«, sagte sie. »Ich kenne die Bücher von Anlageberatern, Management-Trainern … Die sehen alle anders aus. Da gibt es Projektblätter, Projektphasen, Kostenkalkulationen. Es gibt Rückvergütungen, Erfolgsbeteiligungen …« Sie machte eine Pause. »Was ist wirklich Ihr Job, Herr Tretjak? Für welche Art von Beratung zahlen Menschen so viel Geld?«
    Beinahe hätte er es gesagt: Es ist keine Beratung. Ich sage meinen Klienten nicht, was
sie
tun sollen. Ich
tue
es für sie. Ich schicke sie weg aus ihrem Leben und trete vorübergehend an ihre Stelle. Erst wenn alles geregelt ist, kommen sie zurück. »Woher haben Sie diese schöne Uhr?«, fragte Tretjak stattdessen.
    Sie lächelte, hob das Handgelenk und schaute die Uhr an. »Von meinem Großvater«, sagte sie. »Ich hab sie schon bewundert, als ich ganz klein war. Als ich achtzehn wurde, hat er sie mir geschenkt. Ein Jahr später ist er gestorben.«
    Sie sagte nicht: Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Sie sagte auch nicht: Verstehe schon, Sie können nicht darüber reden. Sie nahm einfach die nächste Kladde, schlug sie auf, griff nach ihrer Brille und sagte: »Jeden Monat überweisen Sie 2000 Euro an eine Kirchengemeinde in Niederbayern. Das ist ein Dauerauftrag. Man könnte vermuten, dass es sich um eine Spende handelt, Sie lassen sich aber keine Spendenquittung ausstellen.«
    Tretjak spürte, dass die Tabletten wirkten und er ruhiger wurde. »Ich will den Pfarrer in dieser Gemeinde unterstützen. Er leistet großartige Arbeit. Er soll nicht glauben, ich täte es aus steuerlichen Gründen.«
    Sie sah ihn an. »Sind Sie eine Art Robin Hood?«
    Der melodische Ton der Haustürklingel ertönte. Die Kriminalpolizei sollte später den Zeitpunkt

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