Der Regler
Stadtteil Haar im Münchner Osten. Sie fuhr jeden zweiten Tag hin, und sie brauchte diese Distanz, diese knappe halbe Stunde im Auto, um ihre Kräfte zu sammeln.
Sie kannte das Hilton am Tucher Park schon lange, ein paar Mal hatte sie sich mit ihrem Verleger dort nachmittags zum Sex getroffen. Sie mochte damals schon die Abgeschiedenheit, das Grün, diese Illusion von einem Landsitz. Der Verleger hatte in den letzten Wochen öfter nach einem Date gefragt, »damit du auf andere Gedanken kommst«. Doch Charlotte Poland hatte ihn immer wieder vertröstet auf ein anderes Mal, und irgendwann hatte er klugerweise aufgehört zu fragen. Vielleicht war einfach die Luft raus aus dieser Leidenschaft, aber vielleicht, dachte sie, gab es auch einen anderen Grund: Vielleicht hatte ein anderes Gefühl derart von ihr Besitz ergriffen, dass für nichts anderes mehr Platz war. Es war ein Gefühl, für das sie in ihrem Roman viele Sätze und Seiten benötigt hatte, weil ihr das eine Wort, das es gab, nicht passend schien. Wut – dieses Wort beschrieb ja nur einen momentanen Zustand, etwas Heftiges, das sich schnell aufbaute und wieder abklang.
Sie fuhr immer morgens los. Sie fuhr durch die Stadt, und bei jeder Ampel, die rot war, atmete sie auf, weil das den Weg verlängerte.
Stadtteil Haar. Es gab in vielen Städten Viertel, die mit einem einzigen Begriff identifiziert wurden. Bei Haar war es das Bezirkskrankenhaus, Schilder wiesen frühzeitig die Richtung. Es war kein normales Krankenhaus, es war ein Krankenhaus für Nervenkranke, wenn man es freundlich ausdrückte. Man konnte auch sagen: eine Stadt der Irren. Eine Mauer umgrenzte das Areal, das aus vielen verschiedenen Gebäuden bestand, immer mehr waren im Lauf der Jahre dazugekommen. Charlotte Poland parkte immer draußen, obwohl sie mit dem Auto auf das Gelände hätte fahren können. Sie ging das letzte Stück zu Fuß. Es war ein schöner Weg, an großen Bäumen vorbei. Sie musste zum Haus 10, von außen ein besonders schönes Gebäude. Auch hier konnte man die Illusion von einem Landsitz haben. Untergebracht waren hier die harten Fälle, die forensischen, Menschen, über die ein Richter geurteilt hatte, sie müssten wegen ihrer Taten auf längere Dauer weggesperrt werden, da sie eine Gefahr für die Bevölkerung darstellten.
Seit drei Wochen kam sie nun jeden zweiten Tag. Normalerweise bekam sie nichts mit von den anderen Patienten im Haus 10, zu den Besuchszeiten am Morgen waren alle auf den Zimmern. Nur einmal war sie in die Kaffeeküche gegangen, um nach Besteck und einem Teller zu fragen. Da hatte ein dicker, blasser Mann gestanden, der sich einen Kaffee kochte. Er war sehr freundlich, gab ihr das Besteck und den Teller und fragte, wen sie denn besuche. Sie kamen ins Gespräch, und irgendwann sagte der Mann, es sei ihm am Anfang nicht leichtgefallen, die Patienten hier zu akzeptieren, dass sie eben auch Menschen waren, nur ein bisschen anders, vielleicht auch ein bisschen ehrlicher. Ehrlicher, hatte er gesagt. Charlotte Poland hatte ihn nicht gefragt, warum er denn hier war. Später hatte sie sich bei einer Schwester erkundigt.
»Der Mann mag Leichen«, hatte die Schwester gesagt. Sie würde nicht ganz verstehen, sagte Charlotte Poland. »Na«, hatte die Schwester erklärt, »er gräbt Leichen aus am Friedhof und nimmt sie mit nach Hause. Und manchmal war ihm das zu anstrengend, dann hat er sich die Leichen anders verschafft. Verstehen Sie?« Und sie hatte noch hinzugefügt: »Er hat mir mal erzählt, warum er das tut. Er möchte unter die Haut. Ja, so hat er es gesagt.«
Einige Tage danach hatte Charlotte Poland den Mann mit einer älteren Frau draußen im Park spazieren gehen sehen. Sie hatte gewartet, bis die Frau allein das Haus 10 verließ. Sie fragte sie, wann sie bei ihrem Sohn zum ersten Mal etwas Auffälliges bemerkt habe. Die Frau sagte, schon früh, ihr Sohn habe tote Tiere mit zu sich ins Bett genommen, Mäuse, und dann auch mal eine Katze. Damals habe sie gedacht und gehofft, es werde schon eines Tages vorbeigehen.
Lars war im Zimmer 10 untergebracht. Haus 10, Zimmer 10, leicht zu merken. Ein Doppelzimmer, aber er war allein, die Ärzte hatten gesagt, er könne sich auf keinen Fall mit jemandem das Zimmer teilen. Und sie hatten ihr gesagt, sie könnten es nicht verantworten, dass sie allein zu ihrem Sohn ins Zimmer ginge. Mindestens müssten sie auf einer Zwangsjacke bestehen. Ihr Sohn sei gefährlich. Ihr Sohn könne sie angreifen.
»Mein Sohn
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