Der Regler
gesagt. Das Aroma des Risheehats gehörte bei ihr zum Schreiben, auch der ganz leichte Magenschmerz, der sich zuverlässig nach der vierten Tasse einstellte. Sie wartete auf diesen Schmerz, sie mochte ihn.
Sie nahm noch einen Schluck aus der weißen Porzellantasse, und dann schrieb sie den allerletzten Satz:
Es war so einfach gewesen. Am Ende war es immer einfach.
Charlotte Poland freute sich an der Vorstellung, wie ihr Verleger und Liebhaber reagieren würde, wenn er das neue Buch las. Sicher, sie hatte ihm gesagt, diesmal müsse er mit einem völlig anderen Buch rechnen, einem radikalen, mutigen Buch. Ja, ja, hatte er gemeint, er sei gespannt. »Denk aber auch an deine Leser«, hatte er gesagt, »die wollen wieder eine Poland lesen, nichts anderes. Anderes gibt es genug, aber Poland eben nur einmal.« Der alte Charmeur.
Es war so einfach gewesen. Am Ende war es immer einfach.
Der letzte Satz eines Romans über eine brutale Mörderin. Im Grunde, dachte sie, war das Buch gar nicht so anders als ihre früheren Bücher. Es ging auch hier um den doppelten Boden im Leben ihrer Heldin. Eine Frau, die merkte, dass nichts so war, wie es schien, die begriff, dass um sie herum nichts als Lüge und Betrug und Scheinheiligkeit waren. Der Unterschied im neuen Roman bestand nur in den Konsequenzen, die ihre Heldin zog. Früher waren ihre Bücher eine Art Liebeserklärung an die Scheinheiligkeit gewesen: Wer die Scheinheiligkeit erkennt, lebt ganz wunderbar mit ihr. Das war dieses Mal anders. Diesmal schrie ihre Heldin dagegen an, diesmal vernichtete sie die Lüge, und das Vernichten war wörtlich gemeint. Eine Frau suchte die Wahrheit und lief Amok. Ihr Motiv: Wut auf die Welt, Rache an der Welt.
Charlotte Poland öffnete das Mailprogramm in ihrem Computer und schickte das Manuskript an den Verleger. Der Computer registrierte 7 Uhr 34. 354 Seiten waren es geworden, ihre sonstigen Werke hatten immer fast 200 Seiten mehr gehabt. Die Wahrheit war eben kürzer als die Lüge, dachte sie.
Sie wählte auf dem Hotelapparat die Nummer des Zimmerservice und bestellte ein Glas Champagner. Etwas früh, dachte sie, aber ein bisschen Feiern musste schon sein. Der Service war gut im Hilton, genau sechseinhalb Minuten später wurde ihr das Glas Champagner gebracht. Sie gab dem Kellner zehn Euro Trinkgeld, und als er draußen war, stellte sie sich vor den Spiegel und grinste: Prost, Frau Poland, auf die Mörderin!
Sie wollte mit der Geschichte der Mörderin vor allem eine Frage beantworten: Wie viel Schuld hält ein Mensch aus? Wie viele Unrechtstaten hält ein Gewissen aus? Gewissen, was für ein Wort, dachte Poland. Wenn man einen bösen Menschen tötete, war das nicht viel moralischer, als wenn man ihm zuschaute bei seinen Taten? Gut, dass sie eine Menge recherchiert hatte für das Buch, dachte sie, gut, dass sie genau Bescheid wusste, über was sie schrieb.
»Mein Gewissen hält alles aus«, sagte Charlotte Poland laut in Richtung Spiegelbild. »Mein Gewissen wird noch viel aushalten.«
Sie trank das Glas aus. Und musste für einen Moment an Herrn Borbely denken, den feisten Bankbeamten. War irgendjemand traurig, dass diese schmierige Kreatur nicht mehr lebte? Na, dachte sie, eine Mutter wird er schon auch gehabt haben. Eine Mutter, die jetzt litt. Sie überprüfte sich, als würde sie Fieber messen. Sie horchte in sich hinein – und war zufrieden. Auch das Ende von Herrn Borbely belastete sie nicht, absolut null. Es erreichte nicht mal ansatzweise ihr Bewusstsein. Prallte ab, hinterließ keine messbare Reaktion.
Charlotte Poland hatte sich für sechs Monate ins Hilton eingemietet. Erst mal. Wie es weitergehen würde, wusste sie nicht. Sie hatte die untrügliche Ahnung, keine Zukunft mehr zu haben. Das Hotel schien der geeignete Ort für diese Ahnung zu sein. Die ersten drei Wochen waren nun vorbei, es lebte sich gut hier. Das Hilton lag mitten im Englischen Garten, dem kilometerlangen Münchner Park, und war aus verschiedenen Gründen ein idealer Ort für sie. Man konnte spazieren gehen, wann immer man wollte. Frühmorgens, in der Nacht, immer wenn man nicht schlafen konnte. Sie konnte inzwischen genau die verschiedenen Grau- und Schwarztöne auseinanderhalten, auf die man im Park traf, nachts um zwei Uhr oder um vier Uhr, das Grau morgens um kurz vor sechs Uhr war anders als das um halb sieben.
Das Hotel musste in München sein, in der Stadt, in der ihr Sohn lebte. Dennoch sollte es möglichst weit weg sein von dem
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