Der Regler
Maler hatte ihn stehengelassen und sich ziemlich genervt auf die Rückreise gemacht.
Jetzt im Krankenzimmer biss er in die Wurstsemmel. War es nicht doch logisch: Ein verrückter alter Mann, der verrückte Morde beging – aus Rache an seinem Sohn? Er hatte damals kurz angefangen zu ermitteln in Sachen des Halbbruders von Gabriel Tretjak. Doch ohne Ergebnis – beziehungsweise hatte das Ergebnis gelautet: Luca Tretjak? Gab es nicht. Es gab keine Informationen über diesen Menschen, nichts, nirgends. Maler aß die Semmel auf und erlaubte sich für einen Moment den Gedanken: Ein Mann begeht einen Mord und löscht die Identität seines Opfers. Wenn kein Opfer existiert, gibt es auch keinen Mord. Ein perfekter Mord. Verübt vom Regler? Zumindest von der Theorie her, dachte Maler, müsste Gabriel Tretjak das gefallen.
Den Tee ließ Maler unberührt. Er wusste, wie grässlich er schmeckte. Es war jetzt kurz vor sechs. Maler beschloss, sich noch einen Kaffee in der traurigen Cafeteria des Klinikums zu genehmigen.
3
Um eine Minute nach sechs schloss Fiona Neustadt die Tür des Zimmers auf der Krebsstation. »Trink noch einen Schnaps auf mich, wie immer«, hatte er zum Abschied gesagt. »Ich kann nicht mitmachen, ich schaffe es nicht mehr.«
Das hatte sie nicht erwartet, obwohl sie natürlich wusste, wie schlecht es um ihn stand. Er hatte dauernd davon gesprochen, dass dies ihr letztes Mal sei. Von dem, was er ihr noch sagen wollte. Welche Ratschläge er noch hatte, für die nächsten Wochen. Was sie unbedingt beachten sollte. Und er war ein bisschen sentimental geworden. Stolz sei er auf sie, hatte er gesagt, immer habe er an sie geglaubt, im Gegensatz zu vielen anderen Leuten, und heute wisse er, wie recht er mit seinem Vertrauen gehabt habe. »Tschüss, mein Mädchen.«
Fiona Neustadt ging den langen grauen Gang der Krebsstation hinunter und begann sich zu beobachten. Als würde sie von mehreren Kameras begleitet. Wie wirkte sie, wenn sie hier so ging? Eine hübsche junge Frau, klar, das war sie, aber sah man ihr die Erschütterung an, dass sie gerade von einem Menschen Abschied genommen hatte, der ihr so viel bedeutete? Mehr noch, der vielleicht überhaupt der wichtigste in ihrem Leben war? Er hatte sie immer so gesehen, wie sie war, er hatte immer ihren besonderen Kern wahrgenommen. Er hatte gewusst, wie wertvoll sie war, wozu sie fähig war.
Sie wünschte sich, dass man ihr diese besondere Trauer, ihren Schmerz ansah. Sie wartete am Aufzug. Sie hatte diese Begabung, sich zu betrachten, eine Position von außen einzunehmen und auf diese Weise Distanz zu halten. So verlor sie nie die Kontrolle, behielt immer den Überblick. Das war vielleicht ihre größte Stärke, dachte sie, als der Aufzug kam. Sie drückte auf Erdgeschoss. Sie wollte noch zur Cafeteria. Einen Schnaps auf ihn trinken, wie versprochen. Sie hielt immer, was sie versprach.
Ihre Fähigkeit, sich von außen betrachten zu können, ging noch weiter, dachte Fiona Neustadt, als sie aus dem großen metallenen Aufzug ausstieg und wieder einen langen, grauen Gang Richtung Cafeteria entlangging. Sie konnte sich mit dieser Methode ständig aufspalten, sie war nie nur eine Person und damit immer stärker als die anderen. Kontrollierte Schizophrenie, dachte sie und musste lächeln.
Zum Beispiel heute Morgen: Sie war nach längerer Zeit einmal wieder alleine in ihrer Wohnung aufgewacht. Und sie war nicht einfach aufgestanden. Sie hatte sich selbst dabei zugeschaut. Als jemand, der sie liebte und begehrte. Nicht Gabriel, irgendein Mann. Der Mann als Prototyp. Sie hatte ihre eigenen Blicke auf ihrer Haut gespürt, auch im Bad, unter der Dusche. Sie hatte sich stark gefühlt, nur durch die eigene Projektion.
Fiona Neustadt stand an der Selbstbedienungstheke der Cafeteria und kaufte eine kleine Flasche Weinbrand. Sie nahm sich ein großes Wasserglas und füllte den Weinbrand hinein. Auch jetzt fühlte sie sich stark. Welche Frau machte das schon, Schnaps trinken, in der Cafeteria eines Großklinikums? Sie wollte in einer Ecke sitzen und fand einen Platz am Fenster, das auf den großen Parkplatz hinausging. Die Sonne schien noch. Welch ein Kontrast, dachte sie, zu dem Zimmer auf der Krebsstation.
»Frau Neustadt?«
Sie blickte auf und sah einen Mann in blauem Bademantel, Schlafanzug und Turnschuhen vor sich. Sie brauchte einen Moment, bis sie ihn erkannte.
»Herr Kommissar! Guten Tag, was machen Sie denn hier?«
»Ich bin einige Tage als Patient hier. Nichts
Weitere Kostenlose Bücher