Der Regler
positive Wirkung gemerkt. Beim letzten Mal hatte er sich eingebildet, dass die Tabletten überhaupt erst neue Formen seiner Angst erzeugten.
Es hieß immer, solche Krisen seien die Stunde der wahren Freunde, die man nachts anrufen konnte und zu denen man sagen konnte: Ich brauche dich. Ich brauch deine Hilfe. Kannst du kommen? Das Problem war, dass Gabriel Tretjaks Freunde von anderer Natur waren. Sie kannten von Tretjak andere Anrufe: Du musst sofort für mich etwas tun, und zwar Folgendes. Frag nicht, warum, tu es. Und das galt auch andersherum. Sie meldeten sich bei Tretjak: Kannst du mir einen Gefallen tun? Man wusste, man konnte sich aufeinander verlassen. Sie waren Freunde, aber sie hatten eben diesen eigenen Code. Einen Code, den man nicht verletzen sollte.
Und trotzdem hatte es Tretjak getan, auf seine Weise. Er hatte Stefan Treysa am Wochenende eine Mail geschickt:
Mir geht es nicht gut. Ich würde Dich gern um Deinen Rat bitten. Ich habe einen Vorschlag: Du bist doch Therapeut. Oder warst es mal. Ich möchte einen Termin bei Dir, als Patient. Eine Stunde. Ich fürchte, ich schaffe es sonst nicht.
Treysa antwortete schon einige Minuten später.
Gerne. Montag um 12.30 Uhr, bei mir im Büro, in der Buttermelcherstraße?
Tretjak schaute auf die Uhr, er hatte noch eine Stunde Zeit. Er ging die Sendlinger Straße hinunter, dann links, Richtung Müllerstraße, ein Stück geradeaus, dann rechts in die Hans-Sachs-Straße. Antiquariat Hierlmaier. Er betrat den Laden, und das Klingeln der Türglocke ließ einen sehr dicken Mann aus dem Hintergrund des Ladens erscheinen, dessen Bauch so groß war, dass die blaue Arbeitsschürze ihn kaum umfassen konnte.
»Servus, Herr Tretjak«, sagte Max Hierlmaier.
»Servus, Herr Hierlmaier. Ich hätte einen Job. Eine Wohnung in München. Alles, was im Arbeitszimmer ist, muss in eine andere Wohnung geschafft werden. Alles, was sonst in der Wohnung ist, bitte ausräumen und verkaufen oder sonst was damit machen.«
Max Hierlmaier kannte diese Art von Umzügen. Er hatte sie dutzendfach in Tretjaks Auftrag organisiert. Wenig mitnehmen, viel entsorgen, das war immer die Devise. Tretjak hatte es ihm einmal so erklärt: »Die Leute wollen nicht allzu viel Ballast in ihr neues Leben mitnehmen.«
Hierlmaier fragte nach dem Namen des Wohnungsbesitzers. Tretjak antwortete: »Mein Name. Es geht um mich diesmal. Es ist sozusagen ein privater Auftrag.«
»Oha«, sagte Hierlmaier, »dann übernehme ich den Auftrag persönlich. Das interessiert mich, wie es bei Ihnen zu Hause ausschaut. Ich glaube ja, in Wohnungen kann man alles lesen über einen Menschen.«
»Da werden Sie bei mir nichts zum Lesen finden.«
»Herr Tretjak, ich sag Ihnen: Nix ist auch viel.«
Tretjak sagte ihm noch, er solle sich nicht wundern, wenn er noch Spuren von der Polizei in der Wohnung fände. Die Polizei habe die Wohnung tagelang durchforstet und abschließend gereinigt.
»Okay«, sagte Hierlmaier, »kein Problem.«
Tretjak verließ den Laden, lief Richtung Buttermelcherstraße und dachte an die einzige Anfrage, auf die er in den letzten Wochen reagiert hatte. Ansonsten war er völlig abgetaucht. Egal auf welchem Wege man versucht hatte, ihn zu kontaktieren, der Absender hatte die Nachricht erhalten, Gabriel Tretjak sei auf unbestimmte Zeit nicht erreichbar, er werde die Anfrage auch nicht lesen oder abhören. In diesem Punkt hatte Rainer Gritz sich geirrt, es kamen kaum weniger Anfragen als zuvor. Doch er hatte nur einer einzigen Person eine Antwortmail geschickt. Sie hatte in ein paar Zeilen ihr Leben formuliert: Sie sei eine wohlhabende Frau, ohne Familie, jahrelang sei sie die Geliebte eines sehr prominenten Münchners gewesen, ohne dass es jemand hätte wissen dürfen. Nun sei der Mann gestorben. Und mit ihm ihr Leben, ihre Vergangenheit. Sie wollte dies nun rückwirkend ändern, wollte, dass möglichst viele Leute von der Wahrheit erführen, davon, dass es sie gegeben hatte und gab. Sie wollte sich ihr Leben zurückholen, wenigstens im Erzählen und Erinnern.
Das möchte ich erreichen
, hatte die Frau geschrieben,
unbedingt. Ich kann es nicht selbst organisieren. Können Sie es?
Zur eigenen Überraschung hatte Tretjak geantwortet:
Ja, das könnte ich. Ich muss Sie nur um etwas Geduld bitten. Ich brauche noch etwas Zeit.
Die Antwort hatte er erwartet:
Ich habe so lange gewartet. Da kommt es auf ein paar Monate wirklich nicht an.
Er fand die Vorstellung irgendwie reizvoll: nicht wie sonst immer
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