Der Regler
tut mir nichts, ich weiß das«, hatte Charlotte Poland gesagt.
»Das können Sie möglicherweise nicht richtig einschätzen«, war die Antwort des Doktors gewesen.
»Und wenn er mir etwas tut, dann ist das meine Sache. Ich übernehme die Verantwortung, ich unterschreibe alles.«
»Nein, wir im Haus 10 haben die Verantwortung. Sie haben, wenigstens rein rechtlich, nichts mehr damit zu tun, mit Ihrem Sohn«, hatte der Arzt gesagt.
Lars lag meistens im Bett, manchmal saß er auch auf einem Stuhl, irgendwie verkrümmt. Blond und schmal, wie immer, die Zwangsjacke machte ihn noch dünner, als er ohnehin war.
»Hallo, Mama. Schön, dass du gekommen bist. Ich freue mich.« Genau das waren immer seine Worte.
»Hallo, Lars. Ich freue mich auch«, sagte sie. Und dann fragte sie meistens: »Wie geht es dir?«
»Gut Mama, eigentlich ganz gut.«
Bei ihren ersten Besuchen bat Lars seine Mutter, von der Zukunft zu reden, von ihren Plänen, von Reisen, von Essen, von Träumen. Lars hatte das schon als kleiner Junge gemocht. »Mama, erzähl …«
Charlotte Poland mochte es auch, sogar hier im Zimmer 10. Sie konnte dadurch dem Moment entfliehen. Doch dann hatten die Ärzte von diesen Gesprächen erfahren. Und sie ihr dringlich untersagt: »Frau Poland, für Ihren Sohn ist jede Vorstellung von der Zukunft absolutes Gift. Das ist jedes Mal wieder eine neue Droge, die ihn weiter ins Unglück reißt. Normalerweise ist Phantasie etwas Gutes, bei Lars nicht. Ihr Sohn, Frau Poland, hat jeden Bezug zur Realität verloren. Wir alle müssen versuchen, ihn wieder in die Realität zurückzuführen.«
»Was soll ich dann mit meinem Sohn reden?«
»Fragen Sie, was ihm JETZT durch den Kopf geht. Fragen Sie, wo er sich JETZT in seinem Kopf befindet.«
Seither war es immer ziemlich still im Zimmer 10, wenn Charlotte Poland ihren Sohn besuchte.
»Erzähl von unseren Plänen, Mama.«
»Nein, Lars. Die Ärzte sagen, das ist nicht gut für dich. Erzähl mir doch, was du gerade denkst, was du fühlst.«
»Das weiß ich nicht«, sagte Lars.
Und dann schwiegen sie, beide.
An diesem Morgen, nachdem sie ihren Roman beendet hatte, bat der Chefarzt, der Leiter des Hauses 10, Charlotte Poland noch in sein Büro. Es befand sich im Haus gegenüber, im Haus der Verwaltung, eine Nummer hatte es nicht. Sie hasste diese Gespräche, und die abklingende Wirkung des Champagners machte es nicht besser. Als sie ein paar Minuten später in ihr Auto stieg und Richtung Stadt fuhr, hörte sie noch die Stimme des Chefarztes. »Frau Poland, die Lage Ihres Sohnes ist dramatisch. Es hat eine Entwicklung eingesetzt, eine Art Rückkopplung verschiedenster negativer Faktoren, die wir bislang nicht stoppen können. Es gibt auf der einen Seite die psychische Diagnose, die Unfähigkeit, eine eigene Identität wahrzunehmen. Und dazu kommt der Drogenexzess, der bereits zu Schädigungen des Gehirns geführt hat, die genau diese Auflösungserscheinungen des Ichs weiter fördern.«
»Und was soll ich mit dieser Information anfangen?«, hatte Charlotte Poland gefragt.
»Sie müssen sich darauf einstellen, dass Ihr Sohn niemals in seinem Leben die Psychiatrie verlassen wird. Wir dachten, dass sollten Sie wissen.«
Im Auto suchte Charlotte Poland einen Sender, der nur Musik spielte, sie konnte jetzt keine Stimmen mehr ertragen, die redeten. Sie fand irgendetwas Klassisches. Sie spürte ihre Wut. Auf ihren Mann, auf ihren zukünftigen Ex-Mann, der sich seit der Trennung vielleicht dreimal nach Lars erkundigt hatte, höchstens dreimal. Die Wut auf die Ärzte, die niemals auch nur ein bisschen geholfen hatten, aber nie den Eindruck vermittelten, sie hätten irgendein Gefühl des Versagens.
Die Wut auf Paul Tretjak. Dem Mann hatte sie wirklich geglaubt, dass er etwas Gutes wollte. Ein Träumer, ein gefühlvoller Phantast. Als er ihr damals am Lago Maggiore durch einen Zufall begegnet war, hatte sie gedacht, der Mann mit seiner eigenen Geschichte könnte eine Wende im Leben ihres Sohnes bewirken. Bis sie begriff, mit wem sie es zu tun hatte. Mit einem durch und durch verkommenen Menschen, der nur die eigene Wehleidigkeit im Kopf hatte. Wie hatte sie bei diesem Mann nur so falschliegen können?
Und der andere Tretjak? Der Sohn Gabriel, von seinem Vater als Monster bezeichnet? Dieser Schönling, der sich für einen modernen James Bond hielt? Der angeblich alles in Ordnung bringen konnte, wenn er nur wollte. In Ordnung! Was für ein Begriff für einen Mann, der keine Ahnung
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