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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
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von den Abgründen der eigenen Familiengeschichte hatte.
    Charlotte Poland stellte den Wagen auf dem Hotelparkplatz ab. Es war inzwischen Mittag. Schwül, sah so aus, als käme bald ein Gewitter. Würde guttun. Sie ging zur Rezeption und holte sich ihren Zimmerschlüssel. Ihr Lieblingsrezeptionist, Helmut Gruber, hatte Dienst. Gruber gab ihr den Schlüssel und sagte: »Ein Herr Tretjak war hier. Er ließ ausrichten, dass er im Englischen Garten ist. Sie wissen, wo, sagte der Mann.«
    »Danke, Helmut«, sagte Charlotte Poland. »Ja, ich weiß, wo.«

6
    Gabriel Tretjak ging am späten Montagvormittag in eine der Filialen seiner Bank und tippte die Überweisung in den Bankcomputer. Wie viel ist ein Menschenleben wert, dachte er. Und versuchte den Gedanken gleich wieder zu verwerfen. 50 000 Euro. Überwiesen an Carolina Lanner. Vielleicht empfand sie das Geld als eine Unverschämtheit. Ausgerechnet von ihm. Doch Tretjak hatte die Erfahrung gemacht, alles in allem, dass Geld beruhigte, in jeder Lebenslage. Er war sich sicher, sie würde das Geld behalten. Morgen würde er Carolina Lanner eine SMS schicken, erst morgen, wenn das Geld auf ihrem Konto war. Formuliert hatte er die Nachricht schon:
Nichts kann Ihre geliebte Mutter zurückholen. Aber sie würde sich sicher freuen, wenn das Geld Ihr Café ein bisschen unterstützt. Gabriel Tretjak.
    Er verließ die Bank in der Sendlinger Straße, und er spürte einen Hauch von Lebendigkeit. Er hatte endlich wieder einmal etwas getan. Geld überwiesen, ein paar Buchstaben auf dem Bankcomputer eingetippt, immerhin. In der Früh hatte er bei dem Makler angerufen, ja, er würde die Wohnung nehmen, ab sofort. Nur ein großes Zimmer, mit Doorman unten im Haus, nicht weit entfernt von der Isar, nicht weit weg vom Tierpark. Eine Entscheidung getroffen, ein Telefonat geführt, immerhin.
    Tretjak hatte seine Wohnung am Sankt-Anna-Platz seit dem Mord an Rosa Lanner nicht mehr betreten. Schon die Vorstellung, den Schlüssel in der Wohnungstür umzudrehen, bereitete ihm körperliche Schmerzen. Er hatte sofort gewusst, dass dieser Ort für ihn nicht mehr existierte. Durch den Mord gab es nur noch Vergangenheit in diesen Räumen. Und Vergangenheit war keine Kategorie in seinem Leben. Es konnte für ihn keine andere Entscheidung geben, als die Wohnung so schnell wie möglich loszuwerden.
    Als ihn die Polizei nach der einen Nacht Haft freigelassen hatte, hatte er ein paar Tage im Hotel
Vier Jahreszeiten
gewohnt, einer der besten Adressen der Stadt. Dann hatte er alle zwei Tage die Hotels gewechselt, auch deshalb, weil die Tage dadurch ein wenig Struktur bekamen, auschecken, einchecken, wenigstens das. Am besten ging es ihm, wenn er bei Fiona war, wenn er bei ihr übernachtete. Wenn er nachts aufwachte und sie spürte. Wenn die Angst kam, und er hörte sie atmen. Er fühlte sich ruhiger, wenn Fiona da war.
    Es half ihm überhaupt, wenn irgendjemand da war. Tretjak setzte sich in volle Lokale und versuchte, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Er stieg in ein Taxi und sagte dem Fahrer, er solle ihm München zeigen, er sei ein Tourist mit wenig Zeit, nur auf Durchreise. Mehr als zwei Stunden konnte so eine Fahrt dauern. Tretjak fragte dann und fragte, lauter Dinge über München, die er schon wusste. Wer redet, ist nicht tot, hatte er in irgendeinem Gedicht einmal gelesen.
    Gabriel Tretjak ertrug es nicht mehr, allein zu sein. Ausgerechnet er, der sich immer für den Meister der Einsamkeit gehalten hatte, der bisher gedacht hatte, das Alleinsein wäre das einzige wirkliche Lebenselixier. Tretjak wusste, was dahintersteckte, dass er nicht mehr allein sein konnte: Er konnte sich nicht mehr ertragen. Aber mehr wusste er nicht. Eine Fliehkraft hatte von ihm Besitz ergriffen. Als würde er sich in lauter Einzelteile auflösen, wenn er still dasaß oder dastand und sich nur auf sich konzentrierte. Nur die Bewegung schützte ihn, die Bewegung aus Prinzip, ohne Konzept, ohne Plan. Oder wenn Fiona ihm eher beiläufig einen Kuss gab.
    Mit anderen Worten half ihm genau das, was ihm früher nie geholfen hatte. Sein Leben hatte sich auf den Kopf gestellt, und er hatte keine schlüssige Erklärung, warum es so gekommen war. Und keine Idee, wie es weitergehen sollte. Es machte ihn wahnsinnig, dass er keine Antworten auf die Frage hatte: Was bitte passierte hier mit ihm?
    Tretjak hatte seit zwei Tagen kein Tavor mehr genommen. Er hatte die Dinger zum Schluss wie Hustenbonbons eingeworfen. Aber kaum noch eine

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