Der Reisende
mächtiger, wenn ich nur lernen kann, was ich lernen muß. Schließlich war Alvin nur ein paar Augenblicke nach seiner Geburt ein siebenter Sohn, bis unser ältester Bruder Vigor starb. Aber ich war mein ganzes Leben lang ein siebenter Sohn und bin auch heute noch einer. Kurz über lang werde ich Alvin übertreffen. Ich bin der echte Schöpfer. Der richtige. Kein Heuchler. Keiner, der vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist.
»Wenn du Alvin siehst, sag ihm, er soll mir nicht folgen. Er wird mich erst wiedersehen, wenn ich bereit bin, es mit ihm aufzunehmen, Schöpfer gegen Schöpfer.«
»Es kann niemals einen Kampf Schöpfer gegen Schöpfer geben«, sagte Geschichtentauscher.
»Ach?«
»Denn wenn es einen Kampf gibt«, sagte Geschichtentauscher, »dann nur, weil mindestens einer von ihnen überhaupt kein Schöpfer ist, sondern genau das Gegenteil davon.«
Calvin lachte. »Dieses alte Ammenmärchen? Von einem angeblichen Unschöpfer? Alvin erzählt solche Geschichten, aber sie sind doch nur Quatsch und sollen ihn als noch größeren Held dastehen lassen.«
»Es überrascht mich nicht, daß du nicht an den Unschöpfer glaubst«, sagte Geschichtentauscher. »Der Unschöpfer erzählt stets zuerst die Lüge, es gäbe ihn gar nicht. Und seine wahren Diener glauben ihm stets, noch während sie in der Welt sein Werk ausführen.«
»Also bin ich der Diener des Unschöpfers?« fragte Calvin.
»Natürlich«, sagte Geschichtentauscher. »Ich kann es mit den Prellungen auf meinem Körper beweisen.«
»Diese Prellungen beweisen nur, daß du ein schwacher Mann mit einer großen Klappe bist.«
»Alvin hätte mich geheilt und gestärkt«, sagte Geschichtentauscher. »Das tun Schöpfer nun mal.«
Calvin konnte es nicht mehr ertragen. Er trat den Mann mitten ins Gesicht. Er spürte, wie Geschichtentauschers Nase unter seinem Fußballen brach; dann plumpste der alte Mann ins Gras zurück und lag still da. Calvin machte sich nicht mehr die Mühe, nach seinem Puls zu suchen. Wenn er tot war, war er eben tot. Die Welt wäre ohne seine Lügen und Unhöflichkeiten sowieso ein besserer Ort.
Erst als er sich etwa fünf Minuten später schon tief im Wald befand, wurde ihm die Bedeutung dessen richtig bewußt, was er gerade getan hatte. Einen Menschen getötet! Ich habe vielleicht einen Menschen getötet und ihn einfach dort liegen lassen!
Ich hätte ihn heilen sollen, bevor ich ging. Wie Alvin Menschen heilt. Dann hätte er gewußt, daß ich tatsächlich ein Schöpfer bin, weil ich ihn ja schließlich geheilt habe. Wie konnte ich solch eine Gelegenheit auslassen, ihm zu zeigen, wozu ich imstande bin?
Sofort drehte er um und lief durch den Wald zurück, wich den Wurzeln aus, schlitterte eine Böschung hinab, die er gerade erst so eifrig hinauf geklettert war. Doch als er keuchend die Wiese erreichte, war der alte Mann nicht mehr dort, wenngleich sein Blut noch am Gras klebte und dort, wo sein Kopf gelegen hatte, eine Pfütze bildete. Also war er nicht tot. Er war aufgestanden und davongegangen; also konnte er nicht tot sein.
Was für ein Narr war ich doch, dachte Calvin. Natürlich habe ich ihn nicht getötet. Ich bin ein Schöpfer. Schöpfer zerstören nicht, sie erschaffen. Hat Alvin das nicht immer gesagt? Wenn ich also ein Schöpfer bin, kann nichts von dem, was ich tue, zerstörerisch sein.
Einen Augenblick lang wäre er fast den Hügel hinab zur Mühle gelaufen. Sollte Geschichtentauscher ihn doch vor allen anderen beschuldigen. Calvin würde es einfach abstreiten, und dann könnten sie sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie das Problem klären sollten. Natürlich würden alle Geschichtentauscher glauben. Aber Calvin brauchte nur zu sagen: »Das ist sein Talent, die Leute dazu zu bringen, seine Lügen zu glauben. Warum sonst würdet ihr diesem Fremden mehr vertrauen als Alvin Millers jüngstem Sohn, wo ihr doch alle wißt, daß ich nicht herumlaufe und fremde Leute zusammenschlage?« Es war die reinste Freude, sich diese Szene vorzustellen, bei der Vater und Mutter und Alvin zur Untätigkeit erstarrt wären.
Aber eine noch bessere Szene war die: Calvin frei in der Stadt. Calvin nicht mehr im Schatten seines Bruders.
Und am besten daran war, sie konnten nicht mal einen Trupp Leute zusammenstellen, der ihm folgen würde. Denn hier in der Stadt Vigor Church waren sämtliche Erwachsenen mit Tenskwa-Tawas Fluch geschlagen und mußten jedem Fremden, dem sie begegneten, die Geschichte erzählen, wie sie am Fluß Tippy-Canoe
Weitere Kostenlose Bücher