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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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meiner Tür, du siehst aus wie eine Straßenratte.«
    Calvin schaute an seiner Kleidung hinab und stellte fest, ja, er hatte Kleider gekauft, die ihn mit seiner Umgebung verschmelzen ließen, aber diese Umgebung war die Straße und nicht die Stadt. Bevor er nach Paris ging, mußte er daran etwas ändern. Wenn er schon nicht zum Gentleman werden konnte, mußte er wenigstens zum Handwerker oder Ladenbesitzer werden. Eine Straßenratte durfte er nicht sein.
    Er konnte Leute nicht ausstehen, die sich selbst großzügig nannten, aber das änderte nichts daran, daß das Essen in der Küche gut war. Der Koch gab ihm keine Reste oder Abfälle. Er bekam anständiges Essen, und zwar reichlich davon. Wie gelang es diesem Geschäftsführer, im Geschäft zu bleiben, wenn er den Armen gegenüber so großzügig war? Zweifellos betrog er seinen Boss. Er konnte es sich leisten, großzügig zu sein, da er dafür nicht selbst bezahlen mußte. Bei den meisten Tugenden war das so. Die Leute waren stolz darauf, wie tugendhaft sie waren, doch sobald diese Tugend kostspielig oder unbequem wurde, wich sie erstaunlich schnell praktischen Erwägungen.
    Die Großzügigkeit des Mannes brachte ihm aber immerhin soviel ein: Keine Schaben oder Mäuse in seiner Küche.
    Draußen auf der Gasse trank Bloody Man aus einer Weinflasche. Er sah Calvin, und seine Augen wurden hungrig. Calvin lachte. »Ich habe gehört, Ihr habt eine Geschichte zu erzählen.«
    »Schicken sie zu ihrer Belustigung noch immer Jungs wie dich zu mir?«
    »Keine Belustigung. Ich kenne Eure Geschichte zum größten Teil. Ich schätze, ich wollte Euch nur mal persönlich kennenlernen.«
    Harrison reichte ihm die Weinflasche. »Das ist das Beste an diesem Ort«, sagte er. »Mal abgesehen davon, daß man mich nicht von vornherein wegjagt. Wenn jemand eine Flasche Wein öffnet und sie am Tisch nicht austrinkt, schenkt der Geschäftsführer aus dieser Flasche keinem anderen ein. Also kommt sie hinaus auf die Gasse.«
    »Es überrascht mich«, sagte Calvin, »daß hier nicht zehn Dutzend weitere hungrige Trunkenbolde herumlungern.«
    Harrison lachte. »Früher war dem so. Aber irgendwann waren sie es leid, meine Geschichte zu hören, und jetzt habe ich die Gasse für mich allein. So gefällt es mir auch.«
    Aber Calvin hörte an seinem Tonfall, daß es eine Lüge war. So gefiel es ihm nicht. Er sehnte sich nach Gesellschaft.
    »Ihr könnt ja schon mal anfangen, mir die Geschichte zu erzählen«, sagte Calvin. »Zwischen den Bissen, wenn Ihr wollt.«
    Harrison fing zu essen an. Calvin bemerkte die Überreste von Tischmanieren. Bloody Man war einmal ein zivilisierter Mensch gewesen.
    Beim Essen erzählte Harrison die Geschichte. Er ließ nichts aus: Wie er ein paar Rote aus dem Land südlich vom Hio kommen und zwei weiße Jungen entführen ließ, um die Tat Tenskwa-Tawa in die Schuhe zu schieben, dem sogenannten Roten Propheten. Aber die Jungen wurden irgendwie gerettet und stießen zu Ta-Kumsaw, dem Bruder des Propheten. Aber das spielte keine Rolle, weil Harrison die Entführung noch immer benutzte, um die Weißen im nördlichen Teil von Wobbish aufzuhetzen, die in der Nähe des Dorfs des Propheten am Tippy-Canoe wohnten. So konnte Harrison eine Armee auf die Beine stellen, die Prophetstown auslöschen sollte. Und wer tauchte dann in letzter Minute auf? Nun ja, einer der entführten Jungen. Harrison sah keine andere Wahl, als den Jungen töten zu lassen, und alles schien zu funktionieren. Die Roten standen einfach da und ließen sich von dem Musketenfeuer und den Kartätschen niedermähen, bis neun von zehn tot waren und die ganze Wiese unter Blut stand, das in den Tippy-Canoe floß, aber dann war es doch zuviel für diese weißen Männer – sie nannten sich Männer –, weil sie alle zu schießen aufhörten, bevor die Arbeit getan war, und dann kam dieser Junge, der eigentlich hätte tot sein müssen, und er war nicht mal verletzt und sagte allen die Wahrheit, und dann legte der Rote Prophet auf alle, die dort waren, einen Fluch, und den schlimmsten auf Harrison, und dieser Fluch besagte, daß er die Geschichte jeden Tag einer Person erzählen mußte, die sie noch nicht kannte, und …
    »Ihr erzählt sie ganz falsch«, sagte Calvin.
    Harrison schaute ihn wütend an. »Glaubst du etwa, nach all diesen Jahren wüßte ich nicht, wie man die Geschichte erzählen muß? Wenn ich sie anders erzähle, kriege ich Blut an die Hände, und glaub mir, das sieht schlimm aus. Die Leute übergeben

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