Der Reisende
daß Alvin nie in den Hatrack geht, um zu schwimmen oder so.«
»Weißt du denn überhaupt nichts?« sagte Amy und versuchte, genauso verächtlich zu sprechen wie ihre beste Freundin. »Hast du nichts vom grünen Lied gehört? Daß Alvin von den alten Roten gelernt hat, wie der Wind durch den Wald zu laufen, ganz leise und ohne auch nur einen Zweig zu zerbrechen? Er kann hundert Meilen in der Stunde laufen, ist schneller als jeder Eisenbahnzug. Es war kein Teich hier in der Nähe, er war so weit weg, daß jeder andere aus Vigor Church drei Tage brauchen würde, um auf einem guten Pferd dorthin zu kommen!«
»Jetzt weiß ich, daß du einfach nur lügst«, sagte Ramona.
»Das könnte er jeden Tag machen!« beharrte Amy hitzig.
»Er schon, aber du nicht. Du kreischst ja schon, wenn du ein Spinnennetz berührst, du Klassentrottel.«
»Ich bin kein Klassentrottel, ich bin die beste Schülerin in der Schule du bist der Klassentrottel«, sagte Amy mit einem einzigen Atemzug – diesen Sinnspruch hatte sie schon oft über die Lippen gebracht. »Ich hab nämlich Alvins Hand gehalten, und er hat mich mitgezogen, und als ich müde wurde, hat er mich mit seinen Schmiedearmen hochgehoben und getragen.«
»Und dann hat er ganz bestimmt all seine Kleider ausgezogen, und du hast dich auch ganz nackt ausgezogen, als wäret ihr zwei Wiesel oder so.«
»Bisamratten. Otter. Geschöpfe des Wassers. Es war keine Nacktheit, es war Natürlichkeit, die Freiheit zweier verwandter Seelen, die keine Geheimnisse voreinander haben.«
»Sieh an, was für Wunderschönheiten«, sagte Ramona. »Aber ich glaube, wäre es wirklich passiert, wäre es eine Abscheulichkeit und Widerlichkeit gewesen, wenn er dich in deiner absoluten und völligen Splitternacktheit umarmt hätte.«
Amy wußte, daß Ramona sich über sie lustig machte, aber ihr war nicht ganz klar, warum Worte wie Widerlichkeit das verrückte Mädchen so heftig lachen ließen, daß es fast von dem Baumast gefallen wäre, auf dem sie saßen.
»Du weißt Schönheit nicht zu schätzen.«
»Und du weiß Wahrheit nicht zu schätzen«, sagte Ramona. »Oder sollte ich ›Wahrheitigkeit‹ sagen?«
»Du nennst mich eine Lügnerin?« sagte Amy und stieß sie leicht an.
»He!« rief Ramona. »Das ist nicht fair! Ich sitze am Ende des Astes und kann mich nirgendwo festhalten.«
Amy stieß sie erneut, härter diesmal, und Ramona schwankte hin und her und riß die Augen auf, während sie den Ast umklammerte.
»Hör auf, du kleine Lügnerin!« rief Ramona. »Ja, was du da erzählst, nenne ich Lügen.«
»Es sind keine Lügen«, sagte Amy. »Ich erinnere mich so deutlich daran wie … wie an das Sonnenlicht über den Feldern mit dem grünen Mais.«
»So deutlich wie an das Grunzen der Schweine im Stall meines Vaters«, sagte Ramona mit einer Stimme, die genauso verträumt wie die Amys klang.
»Natürlich übersteigt wahre Liebe deine Vorstellungskraft.«
»Ja, meine Vorstellungskraftigkeit ist der Anbegriff von Schwachheit.«
»Inbegriff, nicht Anbegriff«, sagte Amy.
»Oh, hätte ich doch nur die Erhabenheit deiner Richtigkeit, deine Vernünftigkeit.«
»Hör auf, an alles ein ›heit‹ oder ›keit‹ dranzuhängen.«
»Hör du zuerst auf.«
»Ich tu das doch gar nicht.«
»O doch.«
»O nein.«
»Iß Würmer«, sagte Ramona.
»Auf Gehirnsalat«, sagte Amy. Und nun, da sie wieder bei einem vertrauten verspielten Streit angelangt waren, brachen sie beide in Gelächter aus und sprachen eine Weile über andere Dinge.
Und wäre es so geblieben, wäre vielleicht nichts passiert. Aber auf dem Nachhauseweg fragte Ramona ein letztes Mal in der einbrechenden Dämmerung: »Amy, sag die Wahrheit, auf dein Ehrenwort, von Freundin zu Freundin, schwör beim Himmel, erinnere dich ewig, sag mir, daß du in Wirklichkeit gar nicht in Fleisch und Blut nackt mit Alvin Smith schwimmen gegangen bist …«
»Alvin Maker.«
»Sag mir, daß es ein Traum war.«
Fast hätte Amy gelacht und gesagt: Natürlich war es ein Traum, du Dummerchen.
Aber sie sah etwas in Ramonas Augen: staunende Verwunderung über die Vorstellung, daß so etwas möglich war, und daß jemand, die Ramona tatsächlich kannte, so etwas Verderbtes und Wunderbares getan hatte. Amy wollte nicht, daß dieser Blick des Erstaunens sich in einen des wissenden Triumphs verwandelte. Sie wußte, sie hätte es eigentlich nicht sagen sollen, doch so sagte sie es trotzdem: »Ich wünschte, es wäre ein Traum, ich wünschte es ehrlich,
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