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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Calvins Enttäuschung ging der Offizier nicht zum Captain, sondern schickte statt dessen einen Seemann in den dunklen Keller des Schiffs hinab. Calvin mußte ihm irgend etwas zu sehen geben, und deshalb schickte er jetzt seine Begabung aus und grub sich ins Holz, genau dort, wo das Leck seinen Worten zufolge war. Es war ganz einfach, die Planken etwas zu lösen und unter der Wasserlinie außer Position zu bringen, so daß ein beträchtlicher Wasserstrahl in den Keller des Schiffes strömte. Als er glaubte, der Seemann müsse mittlerweile unten sein und den Riß sehen, öffnete und schloß Calvin ihn wieder, nur um sich einen Spaß zu machen, so daß durch das Leck manchmal nur eine feine Gischt eindrang, manchmal ein Schwall und manchmal nur ein Tröpfeln. Wie Blut, das aus einer Wunde mit einem in Abständen auftretenden Tourniquet sickerte. Ich wette, so ein Leck hat er noch nie zuvor gesehen, dachte Calvin.
    Und in der Tat kam der Seemann nach ein paar Minuten wieder zurück und tat ganz aufgeregt, und nun bellte der Offizier mehreren Matrosen Befehle zu und ging dann direkt zum Captain. Doch diesmal wurde nicht mit den Fingern gezeigt. Der Offizier wollte Calvin keine Anerkennung dafür zollen, das Leck gefunden zu haben. Das ging Calvin wirklich gegen den Strich, und einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, das Boot an Ort und Stelle zu versenken. Aber das hätte ihm nicht weitergeholfen. Vielmehr war es an der Zeit, diesen ehrgeizigen Offizier in seine Schranken zu verweisen.
    Als der Captain nach unten ging, bot Calvin ihm ein schönes Schauspiel. Statt dieses eine Leck spritzen und pulsieren zu lassen, verschob Calvin es von einem Ort zum anderen – ein Schwall hier, ein Schwall dort. Mittlerweile war offensichtlich, daß dieses Leck alles andere als natürlich war. Auf Deck gab es beträchtlichen Aufruhr, und eine Menge Seeleute liefen hinab. Dann liefen zu Calvins Freude sehr viele wieder hinauf und über die Laufplanke auf das trockene Festland, auf dem es keine seltsamen Mächte gab, die Lecks in dem Boot verursachten.
    Schließlich kam der Captain an Deck, und diesmal beanspruchte der Offizier nicht die gesamte Anerkennung für sich. Er zeigte auf den Vorarbeiter, und der zeigte auf den Schauermann, und kurz darauf zeigten alle auf Calvin.
    Nun konnte Calvin natürlich aufhören, mit dem Leck herumzuspielen. Er hörte zwar augenblicklich damit auf, war aber längst noch nicht fertig. Als der Captain zu der Laufplanke ging, setzte Calvin sein Talent ein, um alle Ratten zu suchen, die er in der Nähe wahrnehmen konnte, unter dem Kai und zwischen den Kisten und Fässern und auf den anderen Schiffen. Als der Captain auf halber Höhe der Laufplanke war, rannten ein paar Dutzend Ratten sie in Richtung Schiff hinauf. Der Captain versuchte vergeblich, sie zu verscheuchen, doch Calvin hatte sie mit Mut und der grimmigen Entschlossenheit erfüllt, das Deck zu erreichen – Nahrung, Nahrung, versprach Calvin ihnen –, und sie wichen ihm lediglich aus und liefen weiter. Dutzende weitere strömten über die Planken des Piers, und der Captain mußte praktisch einen Tanz aufführen, um nicht auf sie zu treten und auf den Hintern zu fallen. Auf Deck schlugen Seeleute mit Besen und Dweilen auf die Ratten ein und versuchten, sie ins Meer zu stoßen.
    So plötzlich, wie Calvin die Ratten gerufen hatte, schickte er ihnen eine neue Nachricht: Geht von diesem Schiff runter. Feuer, Feuer. Lecks. Ertrinken. Furcht.
    Quiekend und in wilder Hast strömten alle Ratten, die er an Bord geschickt hatte, wieder über die Laufplanke und alle Seile und Taue, die das Schiff mit dem Ufer verbanden. Und alle Ratten, die bereits an Bord gewesen waren, im Frachtraum und dem dunklen, nassen Bauch und in den verborgenen Höhlen in den Fugen und Balken des Schiffes, strömten ebenfalls aus den Luken und Bullaugen wie Wasser, das aus einer neuen Quelle schoß. Der Captain blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihnen hinterher. Als schließlich der gesamte Rattenverkehr in den Verstecken auf dem Pier und den anderen Schiffen verschwunden war, drehte der Captain sich zu Calvin um und ging zu ihm. Bei alledem hatte der Mann nie seine Würde verloren – nicht mal, während er tanzte, um den Ratten zu entgehen. Das ist der richtige, dachte Calvin. Ich muß ihn beobachten, um zu lernen, wie ein Gentleman sich benimmt.
    »Wieso hast du gewußt, daß ein Leck in meinem Schiff war?« fragte der Captain.
    »Ihr seid Engländer«, sagte

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