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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Ahnung, ob er vierzig Fuß über oder zwanzig Fuß unter der Straßenebene war. Oder ob die Rückwand seiner Zelle sich auf die Straße oder einen Innenhof öffnete. Wer würde die Lücke vielleicht sehen, wenn sie in der Wand erschien? Er konnte nicht einfach ein paar Steine entfernen – er mußte sie an einem Stück entfernen, so daß er sie danach notfalls wieder an Ort und Stelle setzen konnte.
    Er wartete bis zum Abend, dann machte er sich mit einem Steinblock auf Bodenhöhe an die Arbeit. Er war schwer, und Calvin wußte nicht, wie er ihn leichter machen konnte. Es gab auch keine feinsinnige Möglichkeit, Stein über Stein zu bewegen. Schließlich machte er den Stein weich, steckte die Finger hinein und ließ ihn dann um die Finger wieder verhärten, so daß er mitten im Steinblock zugreifen konnte. Während er nun daran zog, verflüssigte er eine dünne Steinschicht am Boden und an den Seiten, so daß er sich leichter ziehen ließ, nachdem er ihn einmal in Bewegung gesetzt hatte. Damit bewirkte er auch, daß der Stein fast geräuschlos aus den anderen glitt – bis auf den dumpfen Schlag, mit dem die Rückseite des Steins aus dem Loch glitt und die paar Zoll zu Boden fiel.
    Eine ziemlich kühle Brise wehte in die Zelle. Er schob den Stein beiseite, legte sich dann zu Boden und steckte Kopf und Schultern in die Lücke.
    Er war etwa zwölf Fuß über dem Boden und direkt über dem Anführer einer Gruppe von zwölf Soldaten, die von irgendwo nach irgendwo marschierten. Zum Glück schauten sie nicht hoch. Aber das änderte nichts daran, daß Calvins Herz fast aus der Brust gesprungen wäre. Doch sobald sie vorbei waren – dachte er –, konnte er mit den Beinen zuerst durch das Loch gleiten, sich ungefährdet zu Boden fallen lassen und einfach in die Straßen von Paris davongehen. Sollten sie sich doch den Kopf darüber zerbrechen, wie er einen Stein aus der Wand bekommen hatte. Das würde sie lehren, keine Leute einzusperren, die Bettler heilten.
    Er wollte sich schon hinablassen – die Füße steckten schon im Loch –, als ihm plötzlich dämmerte, daß eine Flucht so ziemlich das Dümmste war, was er tun konnte. War er nicht hier, um den Kaiser zu sprechen? Als Flüchtling würde ihm das wohl auf keinen Fall gelingen. Bonaparte hatte Kräfte, von denen selbst Alvin nichts wußte. Calvin mußte sie einfach in Erfahrung bringen, sollte es ihm irgendwie möglich sein. Am klügsten war es, einfach hier zu sitzen und abzuwarten, ob irgend jemand in der Kommandokette irgendwie auf den Gedanken käme, daß ein Bursche, der Bettler heilen konnte, vielleicht imstande war, etwas gegen Bonapartes berühmte Gicht zu unternehmen.
    Also rutschte er wieder in die Zelle zurück, hob den Stein an die Lücke und schob ihn hinein. Die Löcher für die Finger ließ er darin – an der Rückseite der Zelle war es dunkel, und sollten sie diese Löcher im Stein bemerken, hatten sie vielleicht mehr Respekt vor seinen Kräften.
    Vielleicht aber auch nicht. Woher sollte er das wissen? Jetzt hatte er nichts mehr unter Kontrolle. Das konnte er nicht ausstehen. Aber wenn man etwas erreichen wollte, mußte man schon einiges daran setzen, um es auch zu bekommen.
    Nun, da er nicht mehr zu fliehen versuchte – aber wußte, daß es ihm möglich war, falls er es wollte –, verbrachte Calvin die Tage und Nächte damit, auf seiner Pritsche zu liegen oder in seiner Zelle auf und ab zu schreiten. Das Alleinsein fiel Calvin nicht leicht. Das hatte er schon auf dem Weg durch die Wälder gelernt, nachdem er Vigor verlassen hatte. Alvin mochte glücklich sein, wenn er wie ein Roter laufen konnte, aber Calvin wich bald von den Waldwegen ab, folgte einer Straße und ließ sich immer wieder von Farmern mit dem Pferdewagen mitnehmen, unterhielt sich dabei die ganze Zeit über und freundete sich mit den Leuten an.
    Und jetzt saß er wieder irgendwo fest, und selbst, wenn die Wachen bereit gewesen wären, mit ihm zu sprechen, hätte er sie nicht verstehen können. Das hatte ihn nicht besonders gestört, als er ungehindert durch die Straßen von Paris gehen konnte und das rege Treiben der Stadt um sich hatte. Doch hier kam er sich aufgrund seiner Unfähigkeit, einen Wärter auch nur zu fragen, welcher Tag sei, geradezu verkrüppelt vor.
    Schließlich vertrieb er sich die Zeit damit, Unfug zu machen. Es war kein Problem, mit seinem Talent in den Mechanismus des Schlosses zu gleiten und den Schlüssel des Wärters zu ruinieren, indem er ihn schmolz, als er

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