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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Angelegenheiten zu verschwenden … und was blieb dem Kleinen Napoleon da anderes übrig? Der Kaiser sollte doch nicht merken, daß er durch irgendeinen Lakaien ersetzt werden konnte. Nein, beharrte er, nein, Onkel, ich gehe selbst, es ist mir ein Vergnügen.
    »Ich hoffe nur, er hält, was du versprichst«, sagte Bonaparte.
    Der winzige Mistkerl spielte mit ihm, das war es. Er wußte genauso gut wie der Kleine Napoleon, daß es überhaupt kein Versprechen gegeben hatte, nur einen Bericht. Doch wenn es dem Kaiser gefiel, dafür zu sorgen, daß seinem Neffen vor Furcht, sich vielleicht zum Narren gemacht zu haben, der Angstschweiß ausbrach … nun ja, Kaiser durften mit den Gefühlen anderer Leute spielen.
    Der Wärter machte einen beträchtlichen Lärm, als er den steinernen Korridor entlang ging und lange mit dem Schlüssel herumfummelte.
    »Was, du Narr, verschaffst du dem Gefangenen Zeit, damit er mit dem Graben des Tunnels aufhören und die Beweise verbergen kann?«
    »In diesem Stockwerk kann man keine Tunnel graben, Exzellenz«, sagte der Kerkermeister.
    »Das weiß ich, du Narr. Aber was soll das Fummeln mit den Schlüsseln?«
    »Die meisten davon sind neu, Exzellenz, und ich erkenne noch nicht, mit welchem man welche Tür öffnen kann, jedenfalls nicht so schnell wie früher.«
    »Dann hol die alten Schlüssel und verschwende nicht meine Zeit!«
    »Die alten Schlüssel funktionieren nicht mehr, oder die Schlösser gingen kaputt, Exzellenz. Es war verrückt, Ihr würdet es nicht glauben.«
    »Ich glaube es nicht«, sagte der Kleine Napoleon grantig. Aber in Wirklichkeit glaubte er es doch – er hatte etwas von Sabotage oder einem seltenen Schlüsselrost oder so in der Bastille gehört.
    Der Schlüssel glitt schließlich ins Schloß, und die Tür öffnete sich ächzend. Der Kerkermeister trat zuerst hinein und leuchtete mit seiner Laterne hin und her, um sich zu vergewissern, daß der Gefangene nicht neben der Tür stand, um ihn anzuspringen und ihm die Schlüssel abzunehmen. Nein, dieser hier, der junge Amerikaner, saß weit von der Tür entfernt, lehnte sich gegen die gegenüberliegende Wand.
    Aber worauf saß er? Der Kerkermeister machte ein, zwei Schritte in die Zelle und hielt die Laterne höher.
    »Mon dieu«, murmelte der Kleine Napoleon.
    Der Amerikaner saß auf einem großen Steinblock aus der Wand, direkt neben der Lücke, die auf die Straße führte. Kein Mensch hätte den Block mit bloßen Händen aus der Wand heben können – wie wollte man ihn überhaupt fassen? Aber warum hatte dieser törichte Amerikaner sich einfach nur hingesetzt und gewartet, nachdem er ihn irgendwie bewegt hatte? Warum war er nicht geflohen?
    Der Amerikaner grinste ihn an, stand dann auf, noch immer lächelnd, den Kleinen Napoleon noch immer ansehend – und stieß dann die Hände und Arme bis zu den Ellbogen in den Stein, so einfach, als sei der Stein ein Wasserbecken.
    Der Kerkermeister schrie auf und lief zur Tür.
    Der Amerikaner zog die Hände wieder aus dem Stein – aber die eine hatte er zur Faust geballt. Er hielt den Stein dem Kleinen Napoleon hin, der ihn ergriff und hochhob. Es war Stein, so hart wie zuvor – aber darin befand sich der Abdruck einer Männerhand mitsamt Fingern. Irgendwie konnte dieser Bursche in festen Stein greifen und einen Klumpen davon wie Ton verformen.
    Kleiner Napoleon wühlte in seinem Gedächtnis und holte ein paar Brocken Englisch aus seiner Schulzeit hervor. »Wie heißt Ihr?« fragte er.
    »Calvin Maker«, sagte der Amerikaner.
    »Sprecht Ihr Französisch?«
    »Kein Wort«, sagte Calvin Maker.
    »Geht avec miesch«, sagte Kleiner Napoleon. »Avec …«
    »Mit«, sagte der Junge hilfreich. »Mit Euch gehen.«
    »Oui. Ja.«
    Der Kaiser hatte endlich nach dem Jungen verlangt. Aber nun hatte Kleiner Napoleon ernste Bedenken. Das Heilen von Bettlern ließ nicht darauf schließen, daß der Junge auch Macht über festen Stein hatte. Was, wenn dieser Calvin Maker etwas tat, was ihn, den Kleinen Napoleon, in Verlegenheit brachte? Was, wenn er – es überstieg seine Vorstellungskraft, aber er mußte es sich vorstellen – was, wenn er Onkel Napoleon tötete?
    Aber der Kaiser hatte nach ihm verlangt. Das konnte man nicht ungeschehen machen. Was sollte er jetzt tun? Onkel etwa sagen, daß der Junge, der seine Gicht heilen sollte, vielleicht die Hände in den Boden stecken und mit einem Klumpen Marmor und Gehirn wieder herausholen würde? Das wäre politischer Selbstmord. In Windeseile würde

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