Der Reisende
ihn ins Schloß steckte. Als der Wärter den Schlüssel wieder herauszog, hatte er keinen Bart mehr, und die Tür war trotzdem noch zugesperrt. Wütend stapfte der Wärter los, einen neuen Schlüssel zu holen. Diesmal ließ Calvin ihn die Tür problemlos öffnen – aber wieso hatte der erste Schlüssel den Bart verloren?
Und es war nicht nur Calvins Schloß. Mit seinem Talent suchte er nah und fern, bis er die anderen belegten Zellen gefunden hatte. Er trieb auch mit ihren Schlössern Spielchen, verschmolz ein paar davon so, daß kein Schlüssel sie öffnen konnte, und andere so, daß keiner mehr hineinpaßte. Das Geschrei, das Gestampfe, das Gelaufe bereiteten Calvin großes Vergnügen, vor allem, als er sich vorstellte, was die Wachen denken mußten. Geister? Spione? Wer stellte diese seltsamen Dinge mit den Schlössern in der Bastille an?
Er lernte auch ein paar Dinge. Wann immer er daheim in Vigor eine Zeitlang gesessen hatte, war er kurz über lang entweder ungeduldig geworden, aufgestanden und wieder herumgelaufen, oder er hatte an Alvin gedacht und war sehr wütend geworden. Auf jeden Fall hatte er nicht besonders viel Zeit damit verbracht, die Grenzen seiner Macht zu erkunden, nicht, seit Alvin nach Hause gekommen war. Nun stellte er jedoch fest, daß er sein Talent recht weit ausschicken konnte, auch an Orte, die er noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Er gewöhnte sich daran, mit seiner besonderen Fähigkeit durch den Stein zu greifen, fühlte die unterschiedlichen Strukturen, ertastete die Holzrahmen der schweren Türen, die Metallscharniere und -Schlösser. Verdammt, war er gut darin!
Und er erkundete mit seinem eigenen Körper die der anderen Gefangenen, versuchte herauszufinden, was Alvin sah, versuchte, tief in den Körper zu schauen. Er experimentierte ein wenig mit den Körpern der anderen Gefangenen, nahm in ihren Beinen Veränderungen vor, wie es auch bei Napoleon notwendig sein würde. Natürlich hatte keiner von ihnen Gicht – das war eine Krankheit reicher Leute, und im Gefängnis war niemand reich, selbst wenn man draußen Geld hatte. Dennoch arbeitete er auf diese Weise im Geiste eine Art Karte aus, wie ein mehr oder weniger gesundes Bein innen aussah. Verschaffte sich einen Eindruck davon, was er tun mußte, um das Bein des Kaisers wieder in einen guten Zustand zu bringen.
Aber um die Wahrheit zu sagen – nach einer Woche verstand er nicht mehr von Beinen als ganz am Anfang.
Eine Woche. Anderthalb Wochen. Immer öfter ging er jeden Tag zur Wand, bückte sich und steckte die Finger in die Löcher. Er zog den Stein ein Stückchen heraus, manchmal auch etwas mehr, und ein- oder zweimal zog er ihn vollständig aus der Wand, um durch das Loch zu gleiten und in die Freiheit davonzugehen. Nach kurzem Nachdenken schob er den Stein immer wieder zurück. Doch jeden Tag mußte er länger darüber nachdenken. Und die Sehnsucht, einfach zu fliehen, wurde immer stärker.
Es war sowieso ein verdammt törichter Plan, wie all seine Pläne, wenn man genau darüber nachdachte. Die Annahme, man würde irgendeinen jungen Amerikaner zum Kaiser vorlassen, war einfach lächerlich.
Er war überzeugt davon, den Stein soeben zum letztenmal aus der Wand geholt zu haben, als er im Gang Schritte hörte. So spät in der Nacht kam hier sonst nie jemand vorbei! Ihm blieb auch keine Zeit mehr, den Stein zurück an Ort und Stelle zu schieben. Es hieß also … gehen oder bleiben? Ganz gleich, was er tat, sie würden sehen, daß der Stein nicht mehr in der Wand war. Wollte er also den Konsequenzen ins Auge sehen, die darin bestehen konnten, daß er vor den Kaiser treten durfte, genauso gut aber auch, daß er zur Guillotine geführt wurde? Oder sollte er durch das Loch schlüpfen und auf die Straße fliehen, bevor sie die Tür öffnen konnten?
Kleiner Napoleon murrte leise vor sich hin. Die ganze Zeit über hätte der Kaiser sich nach dem amerikanischen Heiler erkundigen können. Aber nein, es mußte am Abend sein, es mußte an diesem Abend sein, an dem der Kleine Napoleon für die Eröffnung einer neuen Oper irgendeines Italieners, wie hieß er noch gleich, die beste Loge gemietet hatte. Er wollte dem Kaiser sagen, daß es heute abend nicht gut paßte und er sich einen anderen Kriecher suchen sollte, der seine Bitte erfüllte. Aber dann lächelte der Kaiser ihm zu und deutete an, er habe andere, die eine so niedrige Aufgabe erledigen könnten, und es sei überflüssig, die Zeit seines Neffen mit so unwichtigen
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