Der Reisende
jemanden, der die verschüttete Tinte aufwischt.«
Die Wachen zerrten den Mann hoch und wollten ihn zur Tür schleppen. Nun war es an der Zeit für den Kleinen Napoleon, sich geltend zu machen. »Nehmt sein Schreibpult, ihr Narren«, sagte der Neffe des Kaisers. »Und das Tintenfaß, den Federkiel und das Edikt, wenn es nicht verschmiert wurde.«
»Und wie sollen sie das machen?« fragte Bonaparte gereizt. »Siehst du nicht, daß sie diesen einbeinigen Bettler tragen müssen?« Dann schaute er dem Kleinen Napoleon erwartungsvoll ins Gesicht.
Kleiner Napoleon brauchte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, was der Kaiser von ihm verlangte, und noch einen etwas längeren, bis er seinen Stolz soweit heruntergeschluckt hatte, daß er dazu imstande war. »Ja, natürlich, Onkel«, sagte er mit vorsichtiger Sanftheit. »Ich werde es gern selbst hinausbringen, Sire.«
Calvin unterdrückte ein Lächeln, als der stolze Mann, der ihn verhaftet hatte, nun niederkniete und Papier, Schreibunterlage, Federkiel und Tintenfäßchen einsammelte, wobei er sorgsam darauf achtete, sich ja nicht mit auch nur einem Tropfen Tinte zu beschmutzen. Mittlerweile war der Sekretär, den Calvin gezwickt hatte, hinausgebracht worden. Er spielte kurz mit dem Gedanken, mit seiner Begabung nach ihm zu greifen und den Nerv wieder freizulegen, aber er wußte nicht genau, wohin man ihn gebracht hatte, und wieso sollte er sich überhaupt damit abmühen? Es war doch nur ein Sekretär.
Als der Kleine Napoleon fort war, nahm Bonaparte das Diktat wieder auf, doch nun sprach er nicht mehr schnell und scharf. Statt dessen stockte und berichtigte er sich gelegentlich, und manchmal schwieg er eine ganze Weile, während der Sekretär mit schreibbereiter Feder wartete. In solchen Augenblicken veranlaßte Calvin die Tinte auf der Feder, zu deren Spitze zu fließen und plötzlich auf das Papier zu fallen – ah, wie hektisch das Löschpapier zum Einsatz kam! Und natürlich diente das nur dazu, den Kaiser um so mehr abzulenken.
Die Sache mit den Beinen blieb jedoch bestehen. Calvin erkundete nacheinander alle Sekretäre und zwickte immer wieder andere Nerven, wenn auch nur ganz leicht. Diejenigen, die die Bewegung regelten, tastete er nicht mehr an; es waren die Nerven des Schmerzes, die er jetzt suchte, wobei die aufgerissenen Augen, geröteten Gesichter und das gelegentliche Ringen nach Luft der unglücklichen Sekretäre ihm einiges über seine Fortschritte verriet. Bonaparte blieb ihr Unbehagen nicht verborgen – es lenkte ihn noch zusätzlich ab. Als schließlich ein Sekretär nach einem besonders scharfen Zwicken nach Luft schnappte – bei so feinen Dingen wie Nerven war Calvins Berührung nicht immer genau –, drehte Bonaparte sich auf seinem Stuhl um, zuckte angesichts der Schmerzen in seinem Bein zusammen und sagte, falls Calvin sein Französisch richtig verstanden hatte: »Verspottet Ihr mich mit diesem Jammern und Stöhnen? Ich sitze hier und leide Qualen, während Ihr, die Ihr nicht mehr Schmerz ertragen müßt als die, die das zu lange Sitzen beim Aufnehmen der Briefe Euch bereitet, stöhnt und keucht und seufzt, bis ich glauben muß, von einer Horde Hyänen umzingelt zu sein!«
In diesem Augenblick bekam Calvin es genau richtig hin, übte auf den Schmerznerv eines Sekretärs genau die richtige Dosis Druck aus, so daß alles Gefühl verschwand und der Mann nicht zusammenzuckte, sondern sein Gesicht sich entspannte. Das ist es, dachte Calvin. So wird es gemacht.
Fast hätte er seine Begabung direkt in Bonapartes Bein geschickt, um denselben leichten Druck auszuüben und die Schmerzen des Kaisers verschwinden zu lassen. Zum Glück wurde er abgelenkt, als die Tür geöffnet wurde. Ein Mädchen aus der Spülküche kam mit Eimer und Lappen, um die Tinte vom Marmorboden aufzuwischen. Bonaparte funkelte sie an, und sie hätte beinah alles fallenlassen und wäre Hals über Kopf geflohen, wäre sein Gesichtsausdruck nicht augenblicklich gnädiger geworden. »Mein Zorn gilt meinem Schmerz, Mädchen«, sagte er zu ihr. »Komm rein und tu deine Arbeit, niemand hat etwas dagegen einzuwenden.«
Sie nahm all ihren Mut zusammen, eilte zu der trocknenden Tinte, stellte den Eimer mit einem Scheppern und einem Spritzen ab und machte sich ans Schrubben.
Mittlerweile war Calvin zur Vernunft gekommen. Welchen Sinn hätte es, Bonaparte die Schmerzen zu nehmen, wenn der Kaiser nicht mal wußte, daß es Calvins Werk war? Statt dessen übte er – zweifellos zu deren
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