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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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könnt Ihr es wagen, mich zur Geisel meines Schmerzes zu machen?«
    Calvin antwortete zurückhaltend, wußte jedoch sehr wohl, daß er sein Leben aufs Spiel setzte, wenn er auf irgendeine Art und Weise sagte: »Sire, Ihr habt meinen ganzen Körper die ganze Zeit über gefangen gehalten, obwohl ich zuvor frei war. Ich komme hierher und stelle fest, daß Ihr bereits ein Gefangener des Schmerzes seid, und Ihr beschwert Euch bei mir, daß ich Euch nicht befreie?«
    Die Sekretäre schnappten erneut nach Luft, aber diesmal nicht vor Schmerz. Selbst die Dienstmagd war schockiert – so sehr, daß sie den Eimer umstieß und seifiges, tintiges Wasser über den halben Boden verschüttete.
    Calvin ließ das Wasser schnell vom Boden verdampfen und verwandelte den Tintenrückstand dann in feinen, unsichtbaren Staub.
    Das Dienstmädchen lief schreiend aus dem Raum.
    Auch die Sekretäre waren aufgesprungen. Bonaparte drehte sich zu ihnen um. »Wenn ich irgendein Gerücht davon höre, werdet ihr alle in die Bastille gehen. Sucht das Mädchen und bringt es zum Schweigen – durch Überreden oder Haft, Folter hat es nicht verdient. Und jetzt laßt mich mit diesem Erpresser allein, damit ich herausfinden kann, was er will.«
    Sie verließen den Raum. Als sie gingen, kehrten gerade Kleiner Napoleon und die Wachen zurück, doch Bonaparte schickte sie ebenfalls fort. Sein Neffe konnte den Zorn darüber nur schlecht verbergen.
    »Na schön, wir sind allein«, sagte Bonaparte. »Was willst du?«
    »Euren Schmerz heilen.«
    »Dann heile ihn doch.«
    Calvin nahm die Herausforderung an, verdrehte die Nerven genau richtig und sah, wie Bonapartes Gesicht sich entspannte und den ständigen schmerzverzerrten Ausdruck verlor. »So eine Gabe«, murmelte der Kaiser, »und du säuberst damit Fußböden und nimmst Steine aus Gefängnismauern.«
    »Es wird nicht anhalten«, sagte Calvin.
    »Du meinst, du willst nicht, daß es anhält«, sagte Bonaparte.
    Da Calvin spürte, daß Bonaparte jede Lüge sofort erkennen würde, griff er auf das ungewöhnliche Mittel zurück, die reine Wahrheit zu sagen. »Es ist keine Heilung. Die Gicht ist noch da. Ich verstehe nicht, was es mit der Gicht auf sich hat, und kann sie nicht heilen. Ich kann aber den Schmerz nehmen.«
    »Aber nicht für lange.«
    »Ich weiß nicht, für wie lange«, antwortete Calvin wahrheitsgemäß.
    »Und was verlangst du dafür?« fragte Bonaparte. »Komm schon, Junge. Ich weiß, du willst etwas. Jeder will etwas.«
    »Aber Ihr seid Napoleon Bonaparte«, sagte Calvin. »Ich dachte, Ihr wüßtet, was jeder Mensch will.«
    »Gott flüstert mir nichts ins Ohr, wenn du das meinst. Und, ja, ich weiß, was du willst, habe aber keine Ahnung, warum du damit zu mir gekommen bist. Du gierst danach, der größte Mensch der Erde zu sein. Ich habe schon Männer mit einem Ehrgeiz wie dem deinen kennengelernt – und auch Frauen. Leider kann ich solch einen Ehrgeiz nicht problemlos so lenken, daß er meinen Interessen dient. Normalerweise muß ich solche Menschen töten lassen, weil sie eine Gefahr für mich sind.«
    Diese Worte fuhren wie ein Messer durch Calvins Herz.
    »Aber du bist etwas anderes«, sagte Bonaparte. »Du willst mir nicht schaden. Im Prinzip bin ich nur ein Werkzeug für dich. Eine Möglichkeit, einen Vorteil zu erlangen. Du willst nicht mein Königreich. Ich beherrsche ganz Europa, Nordafrika und einen Großteil des alten Ostens, und doch willst du nur, daß ich dich unterweise, um dich auf ein viel größeres Spiel vorzubereiten. Was für ein Spiel, auf Gottes grüner Erde, könnte das sein?«
    Calvin hatte es ihm gar nicht sagen wollen, aber die Worte sprudelten nur so über seine Lippen. »Ich habe einen Bruder, einen älteren Bruder, der tausendmal mächtiger ist als ich.« Die Worte schmerzten, brannten in seiner Kehle, als er sie sagte.
    »Und auch tausendmal tugendhafter als du, schätze ich«, sagte Bonaparte. Aber diese Worte trafen Calvin nicht. Tugend, wie Alvin sie definierte, war Verschwendung und Schwäche. Calvin war stolz darauf, davon nur wenig zu haben.
    »Warum hat dein Bruder mich nicht herausgefordert?« fragte Bonaparte. »Warum hat er mir in all diesen Jahren nicht sein Gesicht gezeigt?«
    »Er ist nicht ehrgeizig«, sagte Calvin.
    »Das ist gelogen«, sagte Bonaparte, »auch wenn du in deiner Unwissenheit selbst daran glaubst. Es gibt keinen lebenden Menschen ohne Ehrgeiz. Paulus hat es am besten ausgedrückt: Vertrauen, Ehrgeiz und Liebe, die drei Triebkräfte

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