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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Tier dann, bis Calvin sich fast totgelacht hatte. Bei anderen Gelegenheiten zeigte das Geschöpf keinen Schmerz, sondern humpelte, als würde das gezwickte Glied gar nicht existieren. Einmal war ein völlig gesunder Hund herumgerutscht, bis sein Bauch und die Hinterläufe von der Erde völlig wundgescheuert waren und Vater das arme Ding schon erschießen und von seinen Qualen erlösen wollte. Da hatte Calvin sich des Tiers erbarmt und den Nerv befreit, so daß es wieder laufen konnte, aber danach ist es nie mehr richtig gelaufen, sondern nur noch geschlichen. Ob das an dem Zwicken des Nervs lag oder an dem Schaden, der entstanden war, als es fast eine Woche lang den Hintern durch den Dreck zog, konnte Calvin nicht sagen.
    Wichtig war nur, daß das Zwicken dem Nerv jedes Gefühl nahm – Bonaparte würde vielleicht humpeln, aber der Schmerz wäre verschwunden. Erleichterung, keine Heilung.
    Welcher Nerv? Nun war es keineswegs so, daß Calvin ein Schaubild von ihnen angelegt hätte. Dieses methodische Denken sah eher Alvin ähnlich. In England war Calvin klargeworden, daß dies einer der entscheidenden Unterschiede zwischen ihm und seinem Bruder war. Ein Bursche in Cambridge hatte gerade ein neues Wort für Leute geprägt, die so methodisch wie Alvin vorgingen: Wissenschaftler. Während Calvin mit seinem Schwung und Gespür und Temperament und – vor allem – Improvisationsgeist ein Künstler war. Doch das Problem war – bei den Nerven des Kaisers konnte Calvin nicht großartig experimentieren. Es würde wohl kaum eine starke Freundschaft zwischen ihm und dem Kaiser entstehen, wenn Napoleon wie ein gequältes Eichhörnchen quiekte und schrie.
    Er dachte eine Weile darüber nach, bis ihm dann, als er sah, wie ein Sekretär aufstand und aus dem Raum lief, in den Sinn kam, daß Bonapartes Beine nicht die einzigen im Raum waren. Nun, da es darauf ankam, genau herauszufinden, welcher Nerv was tat und mit dem Zwicken den Schmerz nicht hervorzurufen, sondern abzutöten, mußte Calvin den Wissenschaftler spielen und an vielen Beinen üben, bis er es richtig hinbekam.
    Er fing mit dem Sekretär an, der als nächster an die Reihe käme, ein kleiner Bursche (noch kleiner als der Kaiser, ein Mann von bescheidener Statur), der ein wenig auf seinem Stuhl zappelte. Unbequem? fragte Calvin ihn stumm. Mal sehen, ob wir dir etwas Erleichterung verschaffen können. Er schickte sein Talent in das rechte Bein des Mannes, fand dort den augenfälligsten Nerv und zwickte ihn.
    Kein Zusammenzucken, kein schmerzverzerrtes Gesicht. Calvin war verärgert. Er drückte fester. Nichts.
    Dann sprang der Sekretär, der gerade schrieb, auf und stürmte hinaus. Nun war der kleine Bursche an der Reihe, den Calvin gezwickt hatte. Der Mann versuchte, seinen Körper im Stuhl zu verlagern, um besser am Schreibpult arbeiten zu können, doch zu Calvins Freude legte sich ein erstaunter Ausdruck auf das Gesicht des Mannes, gefolgt von einem Erröten, als er hinabgriff und sein rechtes Bein mit den Händen bewegen mußte. Aha. Dieser große Nerv – oder war es ein Bündel sehr feiner Nerven? – hatte nichts mit dem Gefühl zu tun. Statt dessen schien er die Bewegung zu kontrollieren. Interessant.
    Der Bursche schrieb stumm vor sich hin, doch Calvin wußte, daß er in Wirklichkeit darüber nachdachte, was geschehen würde, wenn er aufspringen und hinauslaufen mußte. Und als Napoleon das Edikt diktiert hatte – er gewährte damit bestimmten Weinhändlern in Südfrankreich wegen einer schlechten Ernte Steuererleichterungen –, sprang der Mann auf, wirbelte herum und fiel der Länge nach hin. Sein rechtes Bein war dem linken in die Quere gekommen, wie es bei Kindern manchmal der Fall war, wenn sie Angelschnur spielten.
    Alle Augen richteten sich auf den armen Burschen, aber kein Wort wurde gesprochen. Calvin beobachtete erheitert, wie er sich auf die Hände und das linke Knie erhob, während das rechte Bein nutzlos hinabhing. Das Knie ließ sich natürlich beugen, und der Mann zog das Bein unter den Körper, so daß es aussah, als wäre es in Ordnung, aber zweimal versuchte er, es zu belasten, und zweimal fiel er wieder hin.
    Schließlich nahm der verärgert dreinschauende Bonaparte ihn zur Kenntnis. »Seid Ihr Sekretär oder Hofnarr?«
    »Mein Bein, Sire«, sagte der unglückliche Sekretär. »Mein rechtes Bein scheint mir im Augenblick nicht zu gebrauchen.«
    Bonaparte wandte sich scharf an die neben Calvin stehenden Wachen. »Helft ihm hier raus. Und holt

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