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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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war dort, da sie von allen Frauen am besten in Alvins Schöpferei war und daher als Lehrerin und – so sehr Armor es auch verabscheute – Herstellerin von Hexagrammen unterrichtete. Die Familie mußte wissen, was gespielt wurde, daß Alvin in der Hauptstadt Feinde hatte, die Geld dafür ausgaben, daß ein Anwalt hierher kam, um Schmutz über den Jungen auszugraben. Es führte kein Weg daran vorbei – sie mußten Alvin ebenfalls einen Anwalt beschaffen. Und zwar kein Landei. Es mußte einer aus der Stadt sein, der genauso viele Tricks kannte wie dieser Webster. Armor erinnerte sich verschwommen, irgendwo mal von diesem Mann gehört zu haben. In gewissen Kreisen sprach man mit Ehrfurcht von ihm, und nachdem er sich mit ihm unterhalten und seine goldene Stimme und seine schnellen Antworten gehört hatte, und auch, wie er selbst bei jemandem, der wußte, daß es sich um eine Täuschung handelte, eine Lüge wie die natürliche Wahrheit klingen ließ – nun ja, da wußte Armor, daß es nicht leicht sein würde, einen Anwalt zu finden, der mit ihm fertig werden konnte. Und diese Suche wurde durch ein weiteres Problem erschwert – die Bezahlung.
    Calvin hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde, nachdem er zum Kaiser gebracht worden war. Im Titel des Mannes schlug das alte Rom wieder durch, Persien, Babylon. Aber da saß er auf einem ganz normalen Stuhl statt auf einem Thron, das Bein auf einer gepolsterten Bank liegend; und statt Höflingen waren nur Sekretäre anwesend, von denen jeder auf einem Schreibpult kritzelte, bis ein Befehl oder Brief oder Edikt fertig war, dann aufsprang und aus dem Raum lief, während der nächste Sekretär hektisch zu kritzeln begann, da Bonaparte in einem ständigen Strom diktierte. Sein Französisch war schneidend und schwingend, klang fast wie Italienisch.
    Während das Diktat fortgesetzt wurde, sah Calvin stumm zu. Er wurde auf beiden Seiten von Wachen flankiert; als ob ihn das davon abhalten könnte, den Boden unter dem Kaiser zusammenbrechen zu lassen, wenn ihm danach war. Natürlich forderte man ihn nicht auf, sich zu setzen; selbst der Kleine Napoleon, der Neffe des Kaisers, blieb stehen. Anscheinend durften nur die Sekretäre sitzen; man konnte sich auch nur schwer vorstellen, wie sie ohne Unterlage schreiben sollten.
    Zuerst nahm Calvin einfach nur die Umgebung auf; dann studierte er das Gesicht des Kaisers, als beinhalte dieser leicht gequälte Ausdruck ein Geheimnis, das, wenn man es nur lange genug untersuchte, die Geheimnisse der Sphinx preisgeben würde. Doch schon bald richtete Calvin seine Aufmerksamkeit auf das Bein. Wollte er irgendwelche Fortschritte machen, mußte er die Gicht heilen. Und Calvin hatte keine Ahnung, was die Gicht verursachte, ja nicht mal, wie er sie finden sollte. Das war Alvins Zuständigkeitsbereich.
    Einen Augenblick lang kam Calvin in den Sinn, vielleicht um die Erlaubnis zu bitten, seinem Bruder zu schreiben, damit er Alvin ersuchen konnte, hierher zu kommen, um den Kaiser zu heilen und Calvin seine Freiheit zu verschaffen. Doch sofort verachtete er sich für diesen feigen Gedanken. Bin ich ein Schöpfer oder nicht? Und wenn ich einer bin, dann bin ich Alvin auch gleichgestellt. Und warum sollte ich, wenn ich ihm gleichgestellt bin, Alvin hierher rufen, damit er mich aus einer Lage heraushaut, aus der ich nach allem, was ich zur Zeit weiß, vielleicht gar nicht herausgehauen werden muß?
    Er schickte seine Begabung in Napoleons Bein.
    Es war nicht die Art von Schwellung, die Calvin in den schwärenden Wunden von Bettlern fand. Ihm war nicht klar, um welche Flüssigkeiten es sich handelte – kein Eiter, das war gewiß –, und er wagte es nicht, sie ins Blut zurückfließen zu lassen, aus Angst, es könnte sich um Gifte handeln, die den Mann, von dem er lernen wollte, töten würde.
    Außerdem … stand es wirklich in Calvins Interesse, diesen Mann zu heilen? Ganz abgesehen davon, daß er gar nicht wußte, wie er es zu bewerkstelligen hatte – er war sich gar nicht sicher, daß er es überhaupt versuchen sollte. Er brauchte nicht die vorübergehende Dankbarkeit eines Geheilten, sondern die ständige Abhängigkeit eines Leidenden, der Calvins Pflege brauchte, um Erleichterung zu empfinden. Befristete Erleichterung.
    Und das beherrschte Calvin bis zu einem gewissen Grad. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, in einem Hund oder Eichhörnchen die Nerven zu finden und sie zu kneifen, unsichtbar zu zwicken. Manchmal quietschte und schrie das

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