Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
Vom Netzwerk:
Erleichterung – das beruhigende Drehen an den Nerven aller Sekretäre, und dabei spürte er eine Art Strömung, ein Summen, ein Schwingen der Nerven, die in dem Augenblick, in dem er sie verdrehte, den Schmerz tatsächlich weitertrugen, so daß er noch mehr Übung bekam, indem er einem Bein nicht das gesamte Gefühl nahm, sondern nur den Schmerz selbst. Schließlich war er bei der Magd angelangt, bei dem Schmerz, den sie stets in den Knien spürte, wenn sie auf harten, kalten Böden kniete, um ihre Arbeit zu tun. So plötzlich kam die Linderung, und so scharf und konstant war der Schmerz gewesen, daß sie laut aufschrie, und Bonaparte funkelte sie wegen der Unterbrechung erneut wütend an.
    »Sire«, sagte sie, »vergebt mir, aber plötzlich spüre ich keinen Schmerz mehr in meinen Knien.«
    »Du Glückliche«, sagte Bonaparte. »Stellst du außer diesem Wunder auch fest, daß du keine Tinte mehr auf dem Boden siehst?«
    Sie schaute hinab. »Sire, trotz allen Schrubbens bekomme ich den Fleck nicht ganz weg. Ich fürchte, er ist zu tief in den Stein eingedrungen, Sire.«
    Calvin schickte augenblicklich seine Begabung in die Oberfläche des Marmors und stellte fest, daß die Tinte in der Tat so tief eingedrungen war, daß sie mit Schrubben nicht mehr beseitigt werden konnte. Das war die Chance, Bonapartes Aufmerksamkeit zu gewinnen, nicht als Gefangener – sogar die Wachen waren fort –, sondern als Mann mit einer bestimmten Macht. »Vielleicht kann ich helfen«, sagte er.
    Bonaparte sah ihn an, als erblickte er ihn zum erstenmal, obwohl Calvin durchaus bemerkt hatte, daß der Kaiser ihn in der letzten halben Stunde mehrmals gemustert hatte. Bonaparte sprach ihn in akzentbehaftetem Englisch an. »Seid Ihr nach Paris gekommen, um hier Böden zu schrubben, mein lieber amerikanischer Freund?«
    »Ich bin gekommen, um Euch zu dienen, Sire«, sagte Calvin. »Ob nun bei einem schmutzigen Boden oder bei einem schmerzenden Bein … das spielt für mich keine Rolle.«
    »Wollen wir zuerst mal sehen, was Ihr bei Böden bewirkt«, sagte Bonaparte. »Gib ihm Lappen und Eimer, Mädchen.«
    »Die brauche ich nicht«, sagte Calvin. »Ich habe es bereits erledigt. Laßt sie noch einmal schrubben, und diesmal wird der Fleck sich völlig lösen.«
    Bonaparte schaute finster drein, als ihm klar wurde, daß er für einen amerikanischen Gefangenen und eine Dienstmagd den Dolmetscher spielte, doch seine Neugier war größer als seine Würde, und er gab dem Mädchen den Befehl, noch einmal zu schrubben. Diesmal löste die Tinte sich sofort, und der Stein war wieder sauber. Für Calvin war es ein Kinderspiel gewesen, aber die Ehrfurcht im Gesicht des Mädchens war die beste Reklame für seine wunderbare Macht. »Sire«, sagte sie, »ich mußte nur mit dem Lappen über den Fleck gehen, und er war weg!«
    Die Sekretäre musterten Calvin nun aufmerksam. Sie waren nicht dumm und verdächtigten ihn eindeutig, sowohl ihr Unbehagen als auch ihre Linderung verursacht zu haben, obwohl einige von ihnen sich die Beine rieben, um nach Calvins ersten, unbeholfeneren Versuchen, den Schmerz zu betäuben, wieder Gefühl hineinzubekommen. Nun kehrte Calvin zu ihren Beinen zurück, stellte das Gefühl wieder her und nahm dann die kompliziertere Drehung vor, die den Schmerz entfernte. Sie beobachteten ihn mißtrauisch, während Bonaparte zwischen seinen Schreibern und seinem Gefangenen hin und her schaute.
    »Wie ich sehe, habt Ihr meinen Sekretären kleine Scherze gespielt.«
    Ohne zu antworten, griff Calvin in das Bein des Kaisers und entfernte, nur für einen Augenblick, sämtlichen Schmerz. Aber wirklich nur für einen Augenblick; er ließ ihn nach ein paar Sekunden wieder zurückkehren.
    Bonapartes Gesicht verdunkelte sich. »Was für ein Mann seid Ihr, daß Ihr mir meinen Schmerz einen Augenblick lang nehmen könnt und ihn dann wieder zurückschickt?«
    »Verzeiht mir, Sire«, sagte Calvin. »Es ist einfach, den Schmerz zu heilen, den ich selbst bei Euren Männern verursacht habe. Oder selbst den Schmerz, der entsteht, wenn man beim stundenlangen Schrubben auf dem Boden kniet. Aber die Gicht – das ist schwer, Sire, und ich kenne weder eine Heilung noch eine Linderung, die länger als eine kurze Weile hält.«
    »Aber länger als fünf Sekunden … ich wette, daß bekommt Ihr hin.«
    »Ich kann es versuchen.«
    »Ihr seid mir ein Kluger«, sagte Bonaparte. »Aber ich erkenne eine Lüge. Ihr könnt mir den Schmerz nehmen und tut es trotzdem nicht. Wie

Weitere Kostenlose Bücher