Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
Vom Netzwerk:
nicht, daß er es tat. Tagsüber ertrug er seine Haft recht gut, wie er glaubte, setzte für seine Besucher ein fröhliches Gesicht auf, sang dann und wann vor sich hin – und die Gefängniswärter fielen ein, wenn sie das Lied kannten. Es war eine ausgelassene Gefangenschaft, und alle sagten, es sei eine Schande, daß Alvin überhaupt im Bau saß, aber nahm er es nicht wie ein Soldat?
    In seinem Schlaf jedoch vereinigte sich sein Haß auf die Gefängnismauern, auf die Eintönigkeit und Leblosigkeit des Ortes, zu einer anderen Art von Lied, einer innerlichen Musik, die mit dem grünen Klang harmonisierte, der einst diesen Teil der Welt ausgefüllt hatte. Es war die Musik der Bäume und der niedrigeren Pflanzen, der Insekten und Spinnen, der Geschöpfe mit Fellen und Flossen, die auf den Bäumen, auf dem Boden, in der Erde oder in den kalten Bächen und unaufhaltsamen Flüssen lebten. Und Alvins innere Stimme war darauf eingestellt, kannte alle Melodien, und statt ins Lied von Gefängniswärtern einzufallen, sang sein Herz mit freien Geschöpfen.
    Und sie hörten sein Lied, das menschliche Ohren nicht hören konnten. In den zerrissenen Überresten der uralten Wälder, in dem neuen Wachstum, dort, wo ein paar aufgegebene Felder seit vier oder zehn Jahren brach lagen, hörten sie ihn, die letzten wenigen Bisons, die leisen Hirsche, die jagenden Katzen, die geselligen Kojoten und die grauen Wölfe. Die Vögel, die über allem flogen, hörten ihn, und sie kamen zuerst, zu zweit, zu zehnt, in Schwärmen von Hunderten, besuchten die Stadt und sangen eine Weile seine Musik. Tagvögel kamen des Nachts, bis die Stadt vom Lärm so vieler Lieder gleichzeitig geweckt wurde. Sie kamen und sangen eine Stunde lang und flogen wieder davon, doch die Erinnerung an ihr Lied blieb.
    Zuerst die Vögel, und dann das Lied der Kojoten, das Heulen der Wölfe, das nicht so nah war, als daß es Entsetzen ausgelöst hätte, aber nah genug, um die nicht mit der Natur im Einklang stehenden Herzen der meisten Leute mit einem gewissen Schrecken zu erfüllen, und sie erwachten mit Nachtschweiß. Überall waren Waschbärabdrücke zu sehen, und doch war weder etwas gerissen noch etwas geraubt worden, und nicht mehr als die üblichen Hühner wurden entwendet, obwohl auf den Dächern aller Hühnerställe Fuchsfuße gegangen waren. Eichhörnchen, die Nüsse gesammelt hatten, liefen furchtlos durch die Stadt und ließen kleine Gaben vor dem Gerichtshaus zurück. Fische sprangen im Hatrack und in anderen nahen Bächen, ein silberner Tanz im vom Mondlicht funkelnden Wasser, und die Tropfen fielen wie Sterne in den Bach zurück.
    Das alles verschlief Alvin, und die meisten anderen Leute schliefen ebenfalls, so daß sich nur allmählich die Nachricht verbreitete, daß die Natur in Aufruhr war, und dann sahen nur wenige einen Zusammenhang damit, daß Alvin im Gefängnis saß. Logisch denkende Menschen sagten, das könne nichts miteinander zu tun haben. Dr. Whitley Physicker sagte kühn, wenn man ihn fragte (und manchmal auch, wenn man ihn nicht fragte): »Ich sage es laut und deutlich, es ist falsch, den Jungen einzusperren. Aber damit muß es noch lange nicht irgend etwas zu bedeuten haben, daß letzte Nacht harmlose, nicht stechende Bienen in der Stadt ausgeschwärmt sind, außer vielleicht, daß es einen harten Winter geben wird. Oder vielleicht auch einen milden. Ich weiß nicht genau, was es mit dem Schwärmen von Bienen auf sich hat. Aber es hat nichts damit zu tun, daß Alvin im Gefängnis sitzt, weil die Natur sich kaum mit den juristischen Disputen menschlicher Wesen beschäftigt!«
    Das entsprach zwar der Wahrheit, war aber, wie ein Anwalt sagen würde, irrelevant. Nicht der Umstand, daß Alvin im Gefängnis saß, störte die Natur; vielmehr wurde sie angelockt, weil Alvin in seinen Träumen sang. Und jene wenigen in der Stadt, die ein schwaches Echo seines Liedes hören konnten – jene wie John Binder zum Beispiel, und Captain Harriman, die solche stummen Regungen ihr Leben lang gehört hatten – nun ja, sie wachten nicht auf, weil die Vögel sangen und Kojoten jaulten und Wölfe heulten und Eichhörnchenfüßchen auf Dächern trappelten. Diese Dinge paßten einfach in ihre eigenen Träume, für sie gehörte alles dazu, paßte alles hinein, und Alvins Lied und der natürliche grüne Klang der Welt verkündeten ihnen tief in ihren Herzen Frieden. Sie hörten die Gerüchte, begriffen aber nicht, wieso ein solcher Aufruhr gemacht wurde. Und wenn die

Weitere Kostenlose Bücher