Der Report der Magd
sie aufmerksam beobachten, auf den Ton ihrer Stimme hören, auf unbedachte Worte, so wie Desglen mir zugehört hat. Jetzt, da Desglen fort ist, bin ich wieder wachsam, meine Lässigkeit ist von mir abgefallen, mein Körper dient nicht mehr nur der Lust, sondern er spürt die Gefahr. Ich darf es nicht übereilen, ich sollte kein Risiko eingehen. Aber ich muß es wissen. Ich beherrsche mich, bis wir den letzten Kontrollpunkt hinter uns gelassen haben und nur noch wenige Schritte vor uns liegen. Doch dann kann ich nicht länger an mich halten.
»Ich kannte Desglen nicht sehr gut«, sage ich. »Ich meine, die frühere.«
»Ach ja?« sagt sie. Die Tatsache, daß sie etwas gesagt hat, wie vorsichtig auch immer, macht mir Mut.
»Ich kannte sie erst seit Mai«, sage ich und spüre, wie meine Haut heiß wird, mein Herzschlag sich beschleunigt. Jetzt wird's heikel. Einmal ist es eine Lüge, und außerdem: wie gelange ich von hier zum nächsten wichtigen Wort? »So um den ersten Mai herum, glaube ich, war es, den Maifeiertag, den man May Day nannte.«
»So?« sagt sie, leicht, gleichgültig, bedrohlich. »An diese Bezeichnung kann ich mich nicht erinnern. Und ich bin überrascht, daß du es tust. Du solltest dir Mühe geben…« Sie hält inne. »Dein Gedächtnis von solchen…« Wieder hält sie inne »… von solchen Erinnerungen zu reinigen.«
Jetzt spüre ich Kälte, sie sickert über meine Haut wie Wasser. Was sie da gesagt hat, ist eine Warnung.
Sie ist nicht eine von uns. Aber sie weiß Bescheid.
Das letzte Stück lege ich in tödlichem Schrecken zurück. Ich bin dumm gewesen, wieder einmal. Mehr als dumm. Es ist mir vorher nicht eingefallen, aber jetzt wird es mir klar: falls Desglen geschnappt worden ist, wird sie möglicherweise reden, unter anderem auch von mir. Sie wird reden. Sie wird nicht anders können.
Aber ich habe doch nichts getan, sage ich mir. Nicht wirklich. Ich habe nur gewußt. Ich habe nur nicht gemeldet.
Sie wissen, wo mein Kind ist. Was, wenn sie sie holen, drohen, ihr etwas anzutun, vor meinen Augen? Oder es tun? Ich kann den Gedanken daran, was sie ihr antun könnten, nicht ertragen. Oder Luke, was, wenn sie Luke haben? Oder meine Mutter oder Moira oder irgend jemand anders? Lieber Gott, gib, daß ich nicht wählen muß. Ich würde es nicht ertragen, ich weiß es. Moira hatte recht: Ich werde alles sagen, was sie wollen, ich werde jeden belasten. Es stimmt, der erste Schrei, das erste Wimmern auch nur, und ich werde weich wie Gelee, ich werde mich zu jedem Verbrechen bekennen, ich werde an einem Haken an der Mauer enden. Duck dich, habe ich mir immer gesagt, und steh es durch. Es hilft nichts.
So rede ich mit mir selbst auf dem Weg nach Hause.
An der Ecke wenden wir uns einander in der üblichen Weise zu.
»Unter seinem Auge«, sagt die neue, verräterische Desglen.
»Unter seinem Auge«, sage ich und gebe mir alle Mühe, daß es inbrünstig klingt. Als könnte solches Theaterspielen helfen, wo wir schon viel zu weit gegangen sind.
Dann tut sie etwas Seltsames. Sie beugt sich vor, so daß die steifen weißen Scheuklappen an unseren Köpfen sich fast berühren und ich ihre blassen beigen Augen ganz nahe sehe, das zarte Gespinst von Fältchen auf ihren Wangen. Und sie flüstert, sehr schnell, mit einer Stimme so schwach wie trockenes Laub. »Sie hat sich aufgehängt«, sagt sie. »Nach der Errettung. Sie sah den Wagen, der sie holen kam. Es war besser.«
Dann geht sie von mir weg die Straße hinunter.
Kapitel fünfundvierzig
Ich stehe einen Augenblick da, ohne Luft, als hätte mich jemand getreten.
Dann ist sie also tot, und ich bin doch in Sicherheit. Sie hat es getan, bevor sie kamen. Ich spüre eine große Erleichterung. Ich empfinde Dankbarkeit ihr gegenüber. Sie ist gestorben, damit ich leben kann. Ich werde später trauern.
Falls diese Frau nicht lügt. Diese Möglichkeit besteht immer.
Ich atme ein, tief, atme aus, versorge mich mit Sauerstoff. Der Raum vor mir wird schwarz, dann klärt er sich. Ich sehe meinen Weg vor mir.
Ich wende mich ab, öffne das Tor, lasse meine Hand einen Augenblick darauf liegen, um mir Halt zu geben, gehe hinein. Nick ist da, er wäscht immer noch das Auto, pfeift vor sich hin. Er scheint sehr weit weg zu sein mit seinen Gedanken.
Lieber Gott, denke ich, ich werde alles tun, was du willst. Jetzt, da du mich hast entkommen lassen, werde ich mich selbst auslöschen, wenn du das wirklich willst; ich werde mich wahrhaft leeren, ein Kelch
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