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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Sie nickt. Zwei Wächter, nicht die, die das Seil weggenommen haben, kommen jetzt hinter der Bühne hervor, zwischen sich einen dritten Mann, den sie halb zerren, halb tragen. Auch er trägt eine Wächteruniform, aber er hat keine Mütze auf dem Kopf, und die Uniform ist schmutzig und zerrissen. Sein Gesicht ist voller Schnitte und Schrammen, tief rotbraune Flecke; das Fleisch ist geschwollen und knotig, stachelig vom unrasierten Bart. Es sieht nicht aus wie ein Gesicht, sondern wie ein unbekanntes Gemüse, eine verstümmelte Zwiebel oder Knolle, etwas, das falsch gewachsen ist. Selbst von da, wo ich stehe, rieche ich ihn: er riecht nach Scheiße und Erbrochenem. Sein Haar ist blond und fällt ihm ins Gesicht, hart und strähnig, wovon? Von getrocknetem Schweiß?
    Ich starre ihn voller Abscheu an. Er wirkt wie betrunken. Er sieht aus wie ein Betrunkener, der in eine Schlägerei verwickelt war. Warum haben sie einen Betrunkenen hergebracht?
    »Dieser Mann«, sagt Tante Lydia, »ist der Vergewaltigung überführt.« Ihre Stimme zittert in einer Mischung aus Wut und Triumph. »Er war ein Wächter. Er hat Schande über seine Uniform gebracht. Er hat seine Vertrauensstellung mißbraucht. Sein schändlicher Komplice ist bereits erschossen worden. Die Strafe für Vergewaltigung ist, wie ihr wißt, der Tod. 5. Mose 22, 23-29. Ich darf hinzufügen, daß dieses Verbrechen an zweien von euch begangen wurde, und zwar mit vorgehaltener Waffe. Außerdem war es brutal. Ich will eure Ohren nicht mit Einzelheiten beleidigen, sondern nur sagen, daß eine der Frauen schwanger war und daß das Kind starb.«
    Ein Seufzer steigt von uns auf; ich merke, wie sich unwillkürlich meine Hände zur Faust ballen. Das ist zu viel, diese Gewalttat. Und das Baby auch – nach allem, was wir durchmachen müssen. Es stimmt, es gibt Blutdurst – ich möchte reißen, stechen, zerfleischen.
    Wir drängen nach vorn, unsere Köpfe drehen sich nach beiden Seiten, unsere Nüstern blähen sich, wittern den Tod: Wir schauen einander an, sehen den Haß. Erschießen? Das war zu wenig. Der Kopf des Mannes rollt erschöpft hin und her: hat er wahrgenommen, was sie gesagt hat?
    Tante Lydia wartet einen Augenblick, dann lächelt sie ein wenig und hebt die Pfeife an ihre Lippen. Wir hören sie, schrill und silbrig, die Erinnerung an ein Volleyballspiel vor langer Zeit.
    Die beiden Wächter lassen die Arme des dritten Mannes los und treten zurück. Er taumelt – steht er unter Drogen? – und fällt auf die Knie. Seine Augen sind in dem aufgedunsenen Fleisch seines Gesichts zusammengeschrumpft, als sei das Licht ihm zu hell. Sie haben ihn im Dunkeln gehalten. Er hebt eine Hand an die Wange, wie um zu fühlen, ob er noch da ist. All das geschieht sehr schnell, kommt mir aber sehr langsam vor.
    Niemand bewegt sich nach vorn. Die Frauen schauen ihn voller Entsetzen an; als wäre er eine halbtote Ratte, die sich über den Küchenboden schleppt. Er blinzelt uns an, blickt in die Runde, den Kreis roter Frauen. Einer seiner Mundwinkel verzieht sich nach oben, unglaublich – ein Lächeln?
    Ich versuche, in ihn hineinzuschauen, in das zerstörte Gesicht, versuche zu sehen, wie er in Wirklichkeit aussehen müßte. Ich denke, daß er ungefähr dreißig ist. Es ist nicht Luke.
    Aber er hätte es sein können, das weiß ich. Es könnte Nick sein. Einerlei was er getan hat, ich weiß, daß ich nicht Hand an ihn legen kann.
    Er sagt etwas. Es kommt gepreßt heraus, als wäre sein Hals zerquetscht, seine Zunge riesig in seinem Mund, aber trotzdem höre ich es. Er sagt: »Ich habe nicht …«
    Ein plötzliches Drängen nach vorn, wie die Menschenmenge bei einem Rockkonzert in früheren Zeiten, wenn die Türen geöffnet wurden, dieser Drang, der uns wie eine Welle durchläuft. Die Luft ist hell von Adrenalin, wir dürfen alles tun, und das ist Freiheit, auch in meinem Körper, ich wirble, Rot breitet sich überall aus, aber noch bevor diese Woge von Stoff und Körpern ihn trifft, schiebt sich Desglen zwischen den Frauen hindurch, schaufelt sich mit den Ellbogen nach vorn, links, rechts, und läuft auf ihn zu. Sie drückt ihn seitlich zu Boden, und dann tritt sie wild gegen seinen Kopf, einmal, zweimal, dreimal, scharfe schmerzhafte Stöße mit der Schuhspitze, gut gezielt. Jetzt sind Geräusche zu hören, Keuchen, ein tiefes Knurren, Schreie, und die roten Gestalten stürzen vorwärts, und ich sehe nichts mehr, er ist von Armen, Fäusten, Füßen verdeckt. Ein hoher Schrei kommt

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