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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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als sie näher kommt, denke ich, daß da irgend etwas nicht stimmt. Sie sieht falsch aus. Sie ist auf unbestimmbare Weise verändert. Sie ist nicht verletzt, sie hinkt nicht. Es ist, als wäre sie geschrumpft.
    Dann, als sie näher herangekommen ist, sehe ich, was es ist. Sie ist nicht Desglen. Sie ist gleich groß, aber dünner, und ihr Gesicht ist beige, nicht rosa. Sie kommt auf mich zu, bleibt stehen.
    »Gesegnet sei die Frucht«, sagt sie mit unbewegtem Gesicht, zugeknöpft.
    »Möge der Herr uns öffnen«, erwidere ich, bemüht, meine Überraschung nicht zu zeigen.
    »Du mußt Desfred sein«, sagt sie. Ich sage ja, und wir beginnen unseren Gang.
    Was jetzt, denke ich. Mir schwirrt der Kopf. Das ist keine gute Nachricht – was ist aus ihr geworden? Wie finde ich es heraus, ohne zu großes Interesse zu zeigen? Wir dürfen untereinander keine Freundschaften schließen, keine Loyalitäten entwickeln. Ich versuche mich daran zu erinnern, wieviel Zeit Desglen in ihrer gegenwärtigen Stellung noch abzuleisten hat.
    »Gutes Wetter ist uns gesandt worden«, sage ich.
    »Ich empfange es mit Freuden.« Die Stimme ruhig, ausdruckslos, sie verrät nichts.
    Wir passieren den ersten Kontrollgang, ohne weitere Worte zu wechseln. Sie ist schweigsam, aber ich bin es auch. Wartet sie darauf, daß ich mit etwas beginne, mich offenbare, oder ist sie eine Gläubige, in innere Meditation versunken?
    »Ist Desglen schon versetzt worden, so bald?« frage ich, aber ich weiß, das sie nicht versetzt worden ist. Ich habe sie ja erst heute morgen gesehen. Sie hätte es mir gesagt.
    »Ich bin Desglen«, sagt die Frau. Wie auswendig gelernt. Und natürlich ist sie es, die neue, und Desglen, wo sie auch sein mag, ist nicht mehr Desglen. Ich habe ihren richtigen Namen nie erfahren. So kann man sich verlieren, in einer See von Namen. Es würde nicht leicht sein, sie jetzt zu finden.
    Wir gehen zu Milch und Honig, und zu Alles Fleisch, wo ich Hähnchen kaufe und die neue Desglen drei Pfund Hackfleisch besorgt. Es gibt die üblichen Schlangen. Ich sehe mehrere Frauen, die ich erkenne, tausche mit ihnen das winzige Nicken aus, mit dem wir einander zeigen, daß wir erkannt werden, von einigen zumindest, daß wir noch existieren. Nachdem wir Alles Fleisch wieder verlassen haben, sage ich zu der neuen Desglen: »Wir sollten zu der Mauer gehen.« Ich weiß nicht, was ich mir davon erwarte, eine Möglichkeit, ihre Reaktion zu testen, vielleicht. Ich muß wissen, ob sie eine von uns ist oder nicht. Wenn ja, wenn ich mir da sicher sein kann, kann sie mir vielleicht sagen, was wirklich mit Desglen passiert ist.
    »Wie du möchtest«, sagt sie. Ist das Gleichgültigkeit oder Vorsicht?
     
    An der Mauer hängen die drei Frauen von heute morgen, noch in ihren Kleidern, noch mit ihren Schuhen an den Füßen, noch mit den weißen Säcken über den Köpfen. Ihre Arme sind losgebunden worden und hängen jetzt steif und ordnungsgemäß an den Seiten herab. Die blaue hängt in der Mitte, die beiden roten zu beiden Seiten von ihr, aber die Farben sind nicht mehr so leuchtend; sie scheinen verblaßt, schmutzig geworden, wie tote Schmetterlinge oder tropische Fische, die an Land vertrocknen. Der Glanz ist dahin. Wir stehen da und schauen sie schweigend an.
    »Das soll uns eine Lehre sein«, sagt die neue Desglen schließlich. Ich sage zuerst nichts, weil ich herauszufinden versuche, was sie damit meint. Sie könnte meinen, daß uns dies eine Erinnerung an die Ungerechtigkeit und Brutalität des Regimes sein soll. In diesem Fall müßte ich ja sagen. Oder sie könnte das Gegenteil meinen, daß wir immer daran denken sollten, das zu tun, was uns aufgetragen wird, und keine Schwierigkeiten zu machen, denn wenn wir das tun, werden wir gerecht bestraft werden. Wenn sie das meint, müßte ich sagen Lob sei dem Herrn. Ihre Stimme war neutral, tonlos, bot keine Anhaltspunkte.
    Ich wage es. »Ja«, sage ich.
    Hierauf antwortet sie nicht, obwohl ich am Rand meines Gesichtskreises ein weißes Aufblinken spüre, so, als habe sie mich rasch angesehen.
    Einen Augenblick darauf wenden wir uns von der Mauer ab und treten den langen Rückweg an. Dabei passen wir unsere Schritte in der bewährten Weise einander an, so daß wir in Einklang miteinander zu sein scheinen.
    Ich überlege, daß ich vielleicht besser abwarten sollte, ehe ich einen weiteren Versuch unternehme. Es ist zu früh, zu drängen, zu sondieren. Ich sollte ein, zwei Wochen verstreichen lassen, vielleicht länger, und

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