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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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von irgendwoher, wie ein Pferd in Todesangst.
    Ich bleibe zurück, versuche mich auf den Beinen zu halten. Etwas trifft mich von hinten. Ich wanke. Als ich das Gleichgewicht wiedergewonnen habe und mich umdrehe, sehe ich die Ehefrauen und Töchter, wie sie sich auf ihren Stühlen nach vorn beugen, sehe die Tanten auf der Bühne, die mit Interesse hinunterschauen. Sie müssen eine bessere Sicht haben von dort oben.
    Er ist ein es geworden.
    Desglen ist wieder neben mir. Ihr Gesicht ist angespannt, ausdruckslos.
    »Ich habe gesehen, was du getan hast«, sage ich zu ihr. Jetzt beginne ich wieder zu fühlen. Schock, Empörung, Ekel. Barbarei. »Warum hast du das getan? Du! Ich dachte, du …«
    »Schau mich nicht an«, sagt sie. »Wir werden beobachtet.«
    »Das ist mir egal«, sage ich. Meine Stimme wird lauter, ich kann nichts dagegen tun.
    »Beherrsche dich«, sagt sie und tut so, als bürste sie mich ab, meinen Arm und meine Schulter. Dabei kommt sie mit ihrem Gesicht dicht an mein Ohr: »Sei nicht dumm. Er war gar kein Vergewaltiger, er war ein Politischer. Er war einer von uns. Ich hab ihn bewußtlos geschlagen. Ihn von seinem Elend erlöst. Weißt du nicht, was sie mit ihm machen?«
    Einer von uns, denke ich. Ein Wächter. Es könnte sein.
    Tante Lydia pfeift wieder, aber sie hören nicht sofort auf. Die beiden Wächter gehen hin, ziehen sie weg, weg von dem, was noch übrig ist. Manche liegen auf dem Gras, wo sie aus Versehen geschlagen oder getreten worden sind. Einige sind ohnmächtig geworden. Sie taumeln davon, zu zweit oder zu dritt oder allein. Sie sind wie betäubt.
    »Ihr werdet jetzt eure Partnerinnen suchen und euch wieder aufstellen«, sagt Tante Lydia ins Mikrophon. Nur wenige achten auf sie. Eine Frau kommt auf uns zu, sie geht, als ertastete sie sich den Weg im Dunkeln mit den Füßen: Janine. Eine Blutspur zieht sich über ihre Wange, und noch mehr Blut ist an ihrer weißen Haube. Sie lächelt, ein strahlendes, winziges Lächeln. Ihre Augen sind wie losgelöst.
    »Oh, hallo«, sagt sie. »Wie geht's denn?« Sie hält etwas fest in ihrer rechten Hand. Es ist ein Büschel blondes Haar. Sie stößt ein leises Kichern aus.
    »Janine«, sage ich. Aber sie hat losgelassen, jetzt völlig, sie befindet sich im freien Fall, sie ist auf dem Rückzug.
    »Schönen Tag noch«, sagt sie und geht an uns vorbei, auf das Tor zu.
    Ich sehe ihr nach. Die steigt aus, denke ich. Sie tut mir nicht einmal leid, obwohl ich Mitleid mit ihr haben sollte. Ich bin zornig. Ich bin nicht stolz auf mich, deswegen oder aus irgendeinem anderen Grund. Aber genau das ist das Entscheidende.
     
    Meine Hände riechen nach warmem Teer. Ich würde jetzt gern zurückgehen, zum Haus, und hinauf ins Badezimmer und mich schrubben und schrubben, mit der rauhen Seife und dem Bimsstein, um jede Spur von diesem Geruch von meiner Haut zu bekommen. Der Geruch verursacht mir Übelkeit.
    Aber ich bin auch hungrig. Das ist ungeheuerlich, und trotzdem ist es wahr. Der Tod macht mich hungrig. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß ich ausgeleert worden bin. Aber vielleicht ist es die Methode des Körpers, dafür zu sorgen, daß ich am Leben bleibe, daß ich fortfahre, sein unerschütterliches Gebet zu wiederholen: Ich bin, ich bin, Ich bin – noch.
    Ich möchte ins Bett gehen und vögeln, jetzt sofort.
    Ich muß an das Wort schmecken denken.
    Ich könnte ein Pferd verschlingen.
     

Kapitel vierundvierzig
    Alles ist wieder normal.
    Wie kann ich dies als normal bezeichnen? Aber verglichen mit heute morgen ist es normal.
    Mittags gab es ein Käsesandwich, braunes Brot, ein Glas Milch, Stangensellerie, Birnen aus der Dose. Ein Mittagessen wie für ein Schulkind. Ich aß alles auf, nicht schnell, sondern schwelgend, ich ließ den Geschmack aller Köstlichkeiten auf meiner Zunge zergehen. Jetzt werde ich einkaufen, so wie immer. Ich freue mich sogar darauf. Man kann in Gewohnheiten einen gewissen Trost finden.
    Ich gehe zur Hintertür hinaus, den Gartenweg entlang. Nick wäscht das Auto und hat die Mütze schief auf dem Kopf. Er schaut mich nicht an. Wir vermeiden es neuerdings, einander anzuschauen. Bestimmt würden wir dadurch etwas verraten, auch hier draußen, wo es keiner sieht.
    Ich warte an der Ecke auf Desglen. Sie ist spät dran. Endlich sehe ich sie kommen, eine rot-weiße Stoffgestalt, ein Drachen im Wind. So nähert sie sich in dem gleichmäßigen Tempo, das einzuhalten wir alle gelernt haben. Ich sehe sie und bemerke zuerst nichts. Dann,

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